Kommentar zu AfD und BSW im Bundestag

Unwürdiges Schauspiel zum populistischen Stimmenfang

04:42 Minuten
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, steht an einem Rednerpult im Deutschen Bundestag und spricht.
Wolodymyr Selenskyj bei seiner Rede im Deutschen Bundestag: Die meisten AfD- und BSW-Abgeordneten wollten sie nicht hören. © picture alliance / dpa / Christoph Soeder
Ein Kommentar von Arnd Pollmann · 16.06.2024
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AfD und BSW haben die Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Bundestag boykottiert. Damit haben sie der Würde des Hohen Hauses schwer geschadet.
Werfen wir zunächst einen Blick in die Hausordnung des Deutschen Bundestages: Das Mitbringen von Tieren, Fahrrädern oder E-Scootern ist nicht gestattet. Auch das Mitführen von Waffen, Munition und Sprengstoffen.

Auch Beifall und lauter Unmut sind untersagt

Besuchsgruppen müssen Mäntel, Schirme und sperriges Gepäck an der Garderobe abgegeben, aber auch Transparente, Werkzeuge und Ferngläser. Beifall ist ebenso untersagt wie lautstarker Unmut. Überhaupt gilt laut § 4 im gesamten Gebäude: „Die Besucherinnen und Besucher haben die Würde des Hauses zu achten.“
Für Abgeordnete, die in dieses Haus gewählt worden sind, gelten vergleichbare Benimmregeln. Denn sinnbildlich sind ja auch sie im Parlament nur zu Besuch. Das Hohe Haus ist nicht ihr Eigenheim.
Gewählt auf Zeit, repräsentieren sie bloß vorübergehend den Wählerwillen. Und wenn alle Macht vom Volke ausgeht, sind die demokratisch gewählten Vertretungen lediglich dessen „Handlanger“, wie Rousseau es einst provokativ formulierte. Man kann auch sagen: Die Abgeordneten sind allesamt nur „Saaldiener“ in diesem Hohen Haus.

Politiker, Heerführer, Geistliche

Es ist genau diese repräsentative Treuhandfunktion, von der in Demokratien die gesuchte „Würde“ des Hohen Hauses abhängt. Wenn aber heute von Würde die Rede ist, etwa im Verfassungsrecht, dann ist fast immer die als universell geltende „Würde des Menschen“ gemeint.
Von einer Würde von Ämtern oder gar Gebäuden zu sprechen, klingt anachronistisch. Und tatsächlich geht diese Begriffsverwendung auf die alt-römische „dignitas“ zurück. Einst waren damit Personen in öffentlicher Verantwortung gemeint. Politiker, Heerführer, Geistliche in „Amt und Würden“. Und auch heute noch spricht man gelegentlich von der „Würde des Papstes“ oder der „Würde des Gerichts“.

Repräsentative Pflichten

Aus dieser antiken Amtswürde ergaben sich Privilegien, vor allem aber Pflichten. Man musste sich der Verantwortung des jeweiligen Postens als „würdig“ erweisen. Das gesellschaftliche Ansehen des Amtes war immer auch an das moralische Wohlverhalten des jeweiligen Amtsinhabers gekoppelt. Die Reputation des Amtes stand und steht mit der jeweils konkreten Amtsführung auf dem Spiel.
Dies hat einerseits mit der öffentlichen Vorbildunktion solcher Posten zu tun: Wer repräsentiert, sollte möglichst ein wenig repräsentabler als die Repräsentierten selbst sein. Andererseits ergeben sich diese Pflichten aus der Willküranfälligkeit politischer Macht. Wer über die Gesetze herrscht, sollte sich stets auch selbst beherrschen können.
Schlafen, essen, rauchen im Plenarsaal. Pöbeleien und verbale Entgleisungen. Werbung, Selfies und Verstöße gegen eine ungeschriebene Kleiderordnung: Fußballtrikots, Netzstrümpfe, kurze Hosen oder Flip-Flops. Was nicht verboten ist, muss deshalb nicht schon stilvoll oder eben würdevoll sein.

Parlamentarischer Sittenverfall

Die Würde des Hauses ergibt sich so aus der Etikette vieler einzelner darin verantwortlich tätiger Würdenträger:innen. Das gemeinsame Erscheinungsbild prägt die öffentliche Legitimität des Parlaments, während Skandale und moralisches Fehlverhalten diese Legitimität untergraben. Wer die Würde des eigenen Mandats beschädigt, tastet die Würde des gesamten Hauses an und versagt damit letztlich all jenen den Respekt, die von diesem Haus repräsentiert werden.
Auch ein demonstrativer Auszug aus dem Plenarsaal, wie er diese Woche zu beklagen war, fällt in die betreffende Kategorie. Wer dem Präsidenten der Ukraine den Rücken kehrt, repräsentiert nicht länger ein Wahlvolk, das solidarisch mit den Opfern eines Angriffskrieges ist. Exakt diese Botschaft mögen die gemeinten Abgeordneten im Sinn gehabt haben. Aber ihr unwürdiges Schauspiel diente dem populistischen Stimmenfang.
Man kann dem Hohen Haus nicht nur mit E-Scootern und Munition schaden, sondern auch mit schlechten Manieren – indem man sich genau so pöbelhaft verhält, wie man sich das eigene Stimmvolk vorstellt.
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