Wie ein hoch differenziertes Nervengeräusch
Die Frühkritik ist ein neues Format im Deutschlandradio Kultur. Am Samstag Morgen ging es um die Karl-May-Uraufführung an der Semperoper in Dresden. Unser Rezensent Dieter David Scholz lobt, dass es durch seine Machart dem Zuschauer eine Art "Polyphonie der Sichten auf Realitäten" anbietet.
Nana Brink: "Studio 9"-Chef Jürgen König ist hier, weil es ein neues Programm-Highlight anzukündigen gilt, und zwar die Frühkritik!
Jürgen König: Ja, wir werden von montags bis samstags immer so gegen 8:20 Uhr eine Frühkritik im Programm haben, und das soll auch wirklich eine Kritik sein und kein Bericht, und wir besprechen so ziemlich alles, was man besprechen kann, außer Krankheiten. Das reicht von der klassischen Opern- und Theaterrezension über Film-, Fernsehen-, Medienkritik, wir besprechen Ausstellungen, Konzerte quer durch alle Genres und wir werden ganz sicher auch mal, ich weiß nicht, Regierungserklärungen oder große Bundestagsdebatten mit dem Besteck des Kulturkritikers unter die Lupe nehmen. Also große Vielfalt! Einzige Bedingung bei der Auswahl, worüber wir sprechen: Das muss für ganz Deutschland interessant sein, denn wir senden ja im gesamten Bundesgebiet!
Brink: Sind Sie ein Karl-May-Fan?
König: Ein Karl-May-Fan? Oh ja, vor allen Dingen, weil das immer an den unterschiedlichsten Orten der Welt spielte, das fand ich immer besonders toll!
Brink: Und das ist nämlich auch das Thema unserer Kritik! Gestern Abend fand im Semper 2, der kleinen Spielstätte der Semperoper Dresden eine Uraufführung statt, die einen dem der schillerndsten sächsischen Originalgenies gewidmet ist, nämlich dem Schriftsteller Karl May. "Karl May, Raum der Wahrheit" heißt das Stück, für das der Lyriker und Erzähler Marcel Beyer das Libretto geschrieben hat. Die Musik stammt von dem Komponisten, Musiker und Performancekünstler Manos Tsangaris. Und unser Kritiker Dieter David Scholz hat es gesehen. Winnetou und Old Shatterhand, das sind ja Helden von Millionen. Ist das der Karl May der Dresdener Uraufführung, Herr Scholz?
Kein Cowboy- und Indianerstück
Dieter David Scholz: Nein, überhaupt nicht. Es ist also kein Cowboy- und Indianerstück, es sind eher lose aneinandergefügte biografisch-psychologische Szenen, Momente, Gedanken. Das Ganze hat keinen Anfang, auch kein Ende, auch keine richtige Handlung, es sind Szenen, die Schlaglichter werfen auf die Person Karl May, auf dessen kompliziertes seelisches, seine Verfassung, auf seinen Schaffensprozess seines nicht unumstrittenen Werkes. Es geht um die Wahrheit und um erfundene Wahrheiten, darauf spielt der Untertitel des Stücks an.
Brink: Musiktheater nennt sich ja das Werk. Was hat man sich denn darunter konkret vorzustellen?
Scholz: Es sind zwölf Szenen, geschrieben für 15 Musiker, Schlagwerk, Cembalo, Streicher und Bläser, da gibt es auch noch einige Sänger, Sprecher, einen Chor, es gibt Geräuschinstrumente. Das ist keine Musik im traditionellen Sinne von tonaler Harmonie und Melodie, die man hört, es sind eher Fetzen von Klängen, Geräuschen, Tönen, die sich wie ein Teppich dem lyrisch verdichteten Libretto Marcel Beiers unterlegen, starke, kurze Wortphrasen werden mit kleinteiligen Ton- und Geräuschvokabeln kommentiert. Es geht Tsangaris eigentlich um den Umgang mit Sprache und es geht um stimmliche und archaische Laute, nicht so um etwas wie schöne Musik. Die Musik von Tsangaris würde ich eher als hoch differenziertes Nervengeräusch bezeichnen.
Brink: Überzeugt Sie das Stück? Vermittelt es etwas Neues? Etwas Neues ja, wie Sie das schildern, aber etwas Neues über die Figur von Karl May?
Scholz: Nicht wirklich. Wer sich mit Karl May kritisch beschäftigt hat, der weiß das alles schon. Aber es ist doch eine erste, sehr differenzierte musiktheatralische Auseinandersetzung mit diesem sächsischen Originalgenie und mit dem, was man so Wahrheit nennt, auch wenn es eingebildete oder erfundene Wahrheit ist. Und es geht zum Schluss auch noch um den Film, die Geburt eines neuen Genres, das eigentlich Lesen überflüssig macht. Und da fallen dann auch sehr starke Worte, Film sei Delirium plus niederste Instinkte, sagt der junge Karl May.
Ein Stück für erwachsene Kinder
Brink: Also richtet sie sich an Kinder und Erwachsene oder an beide?
Scholz: Nein, an Kinder ganz bestimmt nicht, das ist ein Stück für Erwachsene, ein Stück für erwachsene Kinder, die vielleicht früher mal Karl May gelesen haben, aber die werden dann einen etwas anderen Karl May vielleicht wahrnehmen als den, den sie aus den Romanen kennen.
Brink: Manfred Weiß, der künstlerische Leiter der Sparte Junge Szene an der Semperoper Dresden hat inszeniert, der junge amerikanische Dirigent Erik Nielsen hat die Musiker der Sächsischen Staatskapelle Dresden dirigiert. Wie war die Aufführung, was ist Ihr Resümee?
Scholz: Ich würde sagen, alles in allem recht überzeugend. Die quadratische Probebühne der Semperoper ist von Okarina Peter und Timo Dentler rundum mit filmkulissenhafter "Winnetou"-Landschaft bemalt worden, in der Mitte sitzt das Orchester, drum herum Podeste, auf denen agiert wird. Die Kostüme sind Karl-May-Zeit, also 19. Jahrhundert, und einer oder andere, die schlüpfen dann immer mal in Orientkostüme à la Karl May. Und das Ganze wird sehr sinnig inszeniert, die Suche nach dem Binnenkosmos des Kopfreisenden Karl Mays, würde ich mal sagen, eine Art Polyphonie der Sichten auf Realitäten. Und das überzeugt eigentlich, auch wenn es nicht wirklich etwas Neues zu erkennen gibt.
Brink: Dieter David Scholz über die Uraufführung "Karl May, Raum der Wahrheit" an der Semperoper gestern. Schönen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.