Wenn der Boden wegbricht
Die europäische Finanzkrise hat es uns vor Augen geführt: Der Grat zwischen Wohlstand und sozialem Abstieg ist schmal. In der Mittelschicht macht sich heute jeder Vierte Sorgen, seinen aktuellen Status zu verlieren – viel mehr als noch vor zehn Jahren.
Was, wenn ich meinen Job verliere? Kann ich meine Wohnung noch bezahlen, meinen Alltag finanzieren, die Krankenversicherung, die Ausbildung der Kinder?
Diese Ängste bestätigt auch Berthold Vogel, Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts an der Georg-August-Universität in Göttingen und Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.
"Nach wie vor dominiert gerade in unserer Gesellschaft der solide Wohlstand. Und dennoch werden feine Risse im Wohlstandsgefüge der Mittelschicht sichtbar. Die Erwerbsarbeit wird instabiler, die sozialstaatliche Sicherung brüchiger, und die finanziellen Eigenleistungen für Gesundheit, Alter und Bildung liegen vor allen Dingen immer höher."
Die Gewissheit gerade der „Babyboomer-Generation“, dass man mit einer soliden Berufsausbildung seinen Lebensweg sichern könne, werde mehr und mehr erschüttert.
"Wir leben zu guten Teilen in einer Aufstiegsgesellschaft und haben immer – und das nicht nur in Deutschland – eine strukturelle Grundnervosität: Wir sind unsicher, ob wir das, was wir erreicht haben, auch behalten."
"Die Konturen zwischen oben und unten sind schärfer geworden", sagt Carsten Voss. "Man sieht es doch längst, wie viele Menschen Flaschen sammeln – und das sind bei Gott keine Obdachlosen. Das sind Sozialhilfeempfänger, Rentner, die sich etwas dazuverdienen müssen, Aufstocker."
Er weiß, was es heißt, den Boden unter den Füßen zu verlieren: Der ehemalige erfolgreiche Modemanager verlor nach einem Burnout seinen Job und war einige Zeit obdachlos. Heute arbeitet er als ehrenamtlicher Mitarbeiter einer Tagesstätte für Obdachlose in Berlin und macht Stadtführungen durch das Berlin der Obdachlosen. Gerade hat er eine Fortbildung zum "EU-Fundraiser" abgeschlossen, um Gelder für soziale Projekte zu akquirieren.
"Es gibt immer mehr Leute, die sozial absteigen, bei denen alles zusammenkommt: Schulden, die Mieterhöhung, die man nicht mehr zahlen kann; die Leute haben eine Scheidung am Hals, können die Alimente nicht mehr zahlen."
Sicher müsse man deshalb nicht auf der Straße landen, aber ähnlich wie er schämten sich viele:
"Ich bin dann aber nicht zum Amt gegangen. Jobcenter, Hartz IV, Wohnungsgeld, das hätte mir ja zugestanden. Ich habe mich geschämt. Ich war zu stolz, zum Amt zu gehen."
Wenn der Boden wegbricht - Die Angst vor dem sozialen Abstieg
Darüber diskutiert Gisela Steinhauer heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr mit Berthold Vogel und Carsten Voss. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@deutschlandradiokultur.de.
Informationen im Internet