Vom ersten Herzschmerz bis zu späten Schicksalsschlägen
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Sie sind in einer Welt ohne Flirtshows und Onlinepornos aufgewachsen: Sechs ältere Herrschaften erzählen in „All the Sex I've ever had“ von ihren Erlebnissen. Vorführungen gab es bereits an Bühnen von Sydney bis Singapur – jetzt ist Bochum dran.
Die Textcollage beginnt Anfang der 1950er-Jahre. Drei Seniorinnen und drei Senioren sitzen an einem Tisch und lesen abwechselnd ihre Erinnerungen an Momente der körperlichen Liebe vor. Sie sind um die 70 und leben in Bochum, Herne, Essen und Sprockhövel. In 90 Minuten führt die Aufführung "All the Sex I've ever had" von Kindheit und Jugend zu Momenten sexueller Erfüllung, aber auch zu Katastrophen. Die Regisseurin Jana Eiting:
"Wir gehen bis in die Gegenwart, aber es geht vor allem darum, auch diese alten Geschichten zu erzählen, wenn man fünf ist, wenn man zehn ist, zwanzig, dreißig. Und das ist schon relativ lange her. Ich glaube, so geht es uns dann allen oder so geht es den Teilnehmerinnen, je näher wir an die Gegenwart rücken, desto schwieriger wird es vielleicht, die Geschichten zu erzählen. Aber wir gehen dann mit sehr viel Vorsicht um oder lassen auch mal entsprechend emotionale Geschichten weg oder Geschichten, mit denen wir uns nicht wohl fühlen."
Das Verhältnis der Geschlechter soll ausgewogen sein
Bevor die sechs vom Sex erzählen, muss das Publikum aufstehen und einen Schwur leisten. Keine der Geschichten, die an diesem Abend erzählt werden, darf den Raum verlassen. Für die Radioaufnahme macht das Ensemble eine Ausnahme, allerdings nur mit Erinnerungen, die schon lange zurück liegen.
"Für mich war das noch mal eine Herausforderung, durch mein Leben zu gehen, weil schon einige Dinge passiert sind", erzählt Protagonist Johannes. "Die ersten Jahre, Jahrzehnte konnte ich auch ganz gut verkraften. Der besondere Einschnitt war dann in meinem sechzigsten Lebensjahr. Was mir dabei aber geholfen hat, besonders die letzten Jahre, war, dass ich die Namen verändert habe."
Johannes ist einer von wenigen Männern, die sich für das Projekt gemeldet haben. Laut Konzept der Performancegruppe Mammalian Diving Reflex soll das Verhältnis der Geschlechter ausgeglichen sein. Die Besetzung zu finden, war keine einfache Aufgabe. Dann kamen die Interviews, behutsame, offene Gespräche, bei denen einige Tränen flossen. Jana Eiting hat Erfahrungen mit diesem Projekt, sie hat schon mehrere Versionen in verschiedenen Städten erarbeitet:
"Was mich überrascht hat, ist, dass hier im Ruhrpott doch der Katholizismus eine große Rolle gespielt hat. Ich glaube, alle sechs Teilnehmer sind katholisch aufgewachsen. Und da gab es dann immer diese Regel, man soll keine unkeuschen Gedanken haben. Man fragt nicht nach. Also es gab nicht so eine Neugier, sich in frühen Jahren mit dem Sex auseinander zu setzen. Das wurde einfach sehr gedeckelt."
Die besondere Gemeinschaft überträgt sich auf das Publikum
Völlig unterschiedliche Persönlichkeiten sind in Bochum zusammengekommen. Eben das macht den Reiz aus. "Ich bin ein sehr rationaler Mensch und habe mir schon im Vorhinein sehr gut überlegt, was ich erzählen werde und was nicht", sagt eine Teilnehmerin. "Und bin – muss ich sagen – auch sehr überrascht, was die anderen Teilnehmerinnen, Teilnehmer bereit sind, zu erzählen. Das hätte ich nicht gemacht."
Für die Teilnehmenden besteht der Reiz nicht nur darin, die eigenen Erlebnisse erzählen und reflektieren zu können. Mindestens ebenso wichtig sind die Berichte der anderen. Es entsteht eine besondere Gemeinschaft, die sich bei den Aufführungen auch auf das Publikum übertragen soll.
Jeder Abend endet mit der Aufforderung, sich dazu zu setzen und mit dem Ensemble zu sprechen. Ein Freigetränk ist im Eintrittspreis enthalten. Und wie sehen Leute, die in sexuell restriktiven Zeiten aufgewachsen sind, den heutigen, scheinbar freieren Umgang mit der Sexualität? Skeptisch:
"Es wird so rein mechanistisch erklärt", meint eine Beteiligte. "Und dann hätte ich das als Jugendliche oder als Kind auch nicht zusammengebracht. Also was da alles noch mit rein spielt, Emotionen, wo die Jugendlichen ja gerade noch, da werden die heute noch allein gelassen, das ist meine Überzeugung, und vielleicht noch mehr als wir früher."