J. Paul Henderson: "Letzter Bus nach Coffeeville", englischer Roman, Verlag Diogenes.
Der letzte Schrei
Sie wollen nicht zum alten Eisen gehören und stürzen sich in neue Abenteuer: In zahlreichen Büchern und Filmen lehnen sich alte Menschen gegen Monotonie und Einsamkeit auf. Der Markt mit Seniorenkomödien boomt.
Der Charaktertypus der/des komischen Alten ist grundsätzlich keine Neuerfindung. Vor allem auf der Bühne gibt es ihn im klassischen Rollenfach von Aristoteles über Moliere bis zu Thomas Bernhard. Der Alte dieses Typus ist verschusselt, vergesslich, lächerlich, schamlos oder kindisch, läuft versehentlich in Unterhosen herum, hat die Königskrone schief auf dem Kopf, etc …
Das neue Genre der Seniorenkomödie zielt jedoch in eine andere Richtung: Die Komik entsteht nicht aus dem Typus an sich, sondern aus der Handlung. Sie zeigt in der Regel den alten Menschen als Rebell gegen die Zumutungen des Seniorenlebens, das sich auf dem Abstellgleis, sprich: in Altersheimen abspielt, oder in einem monotonen, ereignislosen Alltag, welcher den geistigen und gesundheitlichen Möglichkeiten heutiger Senioren überhaupt nicht entspricht.
Draufgänger im Alter
Literarischer Prototyp und Initialzündung des Genres war der 2009 erschienene Roman von Jonas Jonasson "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand". Ein in 35 Sprachen übersetzter Welterfolg, mittlerweile auch verfilmt. Die wichtigsten Elemente des Genres des sind vertreten: Am Tag vor seinem 100. Geburtstag flieht der 99-Jährige aus dem Altersheim, in das er gegen seinen Willen gesperrt wurde. Schon die gymnastische Leistung, aus dem Fenster zu springen, verdeutlicht Vitalität, Abenteuerlust, Widerstandsgeist und Draufgängertum des Alten. Kaum entflohen, wird er in eine turbulente Krimikomödie verwickelt. Am Bahnhof passt er auf den Koffer eines jungen Diebes auf, steigt mit dem Koffer in den Zug, lernt einen anderen, wenn auch "erst" 70-jährigen Alten kennen. Aus dem Zweiergespann wird eine Clique, die sich nun im Fortgang des Unterhaltungsromans mit Gangstern und Polizisten herumschlägt.
Die Botschaft ist: Wer nach Jahren alt ist, kann in seiner Lebenslust noch verdammt jung sein.
Die Seniorenkomödie lehnt sich gegen zwei der schlimmsten Altersplagen auf: Langeweile und Einsamkeit. Die Langeweile wird durch hohe, oft krimiartige Handlungsturbulenz überwunden, die Einsamkeit durch die Bildung von Seniorencliquen. Das Entstehen der zeitgenössischen Seniorenkomödie ist unübersehbar eine Reaktion auf die demografische Entwicklung westlicher Gesellschaften. Es gibt nicht nur immer mehr alte Menschen. Das Alter nimmt in der biografischen Dramaturgie einen immer größeren Raum ein. Wer mit 65 in Rente geht, kann noch zwei oder drei Lebensjahrzehnte vor sich haben. Aber für das Problem, wie sie sinnstiftend, erlebnisreich und erfüllend zu gestalten sind, gibt es weder soziale Konzepte noch kollektiv verbindliche Fantasien.
An aktuellen, gerade erschienenen literarischen Seniorenkomödien wären zu nennen:
Ein Road Movie: Drei alte Freunde unternehmen in einem klapprigen Tourbus der Beatles eine Tour durch die USA, haben viel Spaß, erleben die genretypischen Jugendabenteuer. Die Motive: Zweite Jugend, Reisen und Clique sind vertreten.
Hendrik Groen, "Eierlikörtage. Das geheime Tagebuch des Hendrik Groen, 83 ¼ Jahre", niederländischer Tagebuchroman, Verlag Piper.
Ausgangsszenario: Das Leiden im monotonen Stillstand eines Altersheims mit der altersheimtypischen Infantilisierung der Alten. Hendrik Groen rebelliert gegen die "chronische Ereignislosigkeit". Er gründet einen subversiven Club. Die Clubmitglieder wollen ihr Leben umstülpen. Sie wollen Ausflüge machen, abends ins Kino gehen, Diskussionsrunden zu interessanten, erwachsenen Menschen entsprechenden Themen. Einfach: Action. Das führt zu vielen Verwicklungen mit der Heimleitung …
Carrie Snyder, "Die Frau, die allen davon rannte", kanadischer Roman, Verlag btb.
Schon der Titel knüpft an den "Hundertjährigen, der aus dem Fenster…." an. Ausgangspunkt: Altersheim. Die bekannte Ödnis. Aganetha Smart, Altenheimbewohnerin, sehnt sich nach Abenteuern, nach erfrischenden Erlebnissen. In ihrer Jugend war sie eine berühmte Läuferin, gewann 1928 eine Goldmedaille für Kanada bei den Olympischen Spielen. In Gestalt zweier junger Leute, die plötzlich im Heim erscheinen und sie für einen Film über junge Sportler interviewen wollen, kommt unversehens tatsächlich Leben in die Bude. Aganetha taucht in ihre Lebenserinnerungen ein, auch in eine alte Lebenslüge – und es stellt sich heraus, dass sie beiden Interviewer etwas ganz anderes im Schilde führen, womit der kriminalistische Aspekt in die Handlung eingeführt wird.
Renate Bergmann, "Wer erbt, muss auch gießen. Die Online-Omi", dt. Unterhaltungsroman, Rowohlt TB.
Ältere, gewitzte Dame erlebt zu ihrer Überraschung, wie ihre Bankaktien über Nacht in die Höhe schießen und nutzt ihren unerwarteten Wohlstand als Druckmittel gegen Anverwandte und zukünftige Erben. Im Zentrum stehen die unkonventionellen bis anarchischen Ideen der Seniorin.
Frederik Bauman, "Oma lässt grüßen und sagt, es tut ihr leid", schwedischer Roman mit starkem Comedy-Charakter, Fischer Verlag, erschien bereits 2015.
Ähnliches Schema wie bei Renate Bergmann, nur liegt die alte Dame hier im Krankenhaus und es werden im Rückblick diverse ihrer Seniorenstreiche erzählt. Sie raucht gern auf dem Klo, bricht nachts in Zoos ein, füttert den Hund der Nachbarin heimlich mit Schokolade, etc… Im Zentrum steht nicht zufällig der Geheimpakt mit ihrer Enkelin, die sich an den Streichen gern beteiligt.
Seniorenkomödie im Film
Mindestens so ergiebig wie in der Unterhaltungsliteratur ist das neue Genre der Seniorenkomödie im Film und im Fernsehen. Eine regelrechte Konjunktur, von "Space Cowboys" mit C. Eastwood aus dem Jahr 2000, über "Was das Herz begehrt" mit Jack Nicholson und Diane Keaton (2003), " Best Exotic Marrigold Hotel" (2011), "Last Vegas" (2013), "Das grenzt an Liebe" (2014). "Wir sind die Neuen" (2012) mit Heiner Lauterbach ist die Geschichte von drei Alt-68ern in München, die auf ihre alten Tage die WG aufleben lassen, in der sie in den 70er Jahren zusammenwohnte. Allein im vergangenen Jahr kamen drei Seniorenkomödien ins Kino. Unter anderen die israelische Sterbehilfekomödie "Am Ende ein Fest".
In all diesen Filmen wie in den Unterhaltungsromanen geht es um den Aufstand alter Menschen gegen Monotonie und Einsamkeit und das auf witzige, meist allerdings auch sehr überdrehte Weise. Zu lesen und zu sehen sind Emanzipationsgeschichten. Sie haben in der Regel eine Schwachstelle: Das Modell der Emanzipation orientiert sich am Modell der Jugendrebellion. Die Dramaturgie der Seniorenabenteuer (road-movie, Cliquenbildung, Verstoß gegen Regeln und Konventionen, Abhauen aus Institutionen …) orientiert sich merkwürdigerweise am Genre des coming-of-age-Genres. Die Revitalisierung der Alten vollzieht sich somit im biografischen Rückwärtsgang.
Die Senioren all dieser Komödien sind eine Art Scheinjugendliche. Nicht zufällig lassen viele Geschichten Jugendfreundschaften, Jugendepisoden, frühere WGs der Alten wiederaufleben, als ließe sich die Zeit tatsächlich zurückdrehen. Damit verdrängen diese Komödien aber den wahren Verlauf der Zeit: Zum nahen Tod hin. Das oft Übertriebene, comedyhaft Schrille dieses neuen Genres verdankt sich der Ausblendung der Melancholie. Die Emanzipation geht auf Kosten einer Wahrheit des Alters, die kurze Strecke, die dem Leben noch bleibt, und die um vieles längere, die hinter ihm liegt.