Brauchen wir wirklich noch Sommerhits?
05:28 Minuten
Gefühlvoller Gesang, lateinamerikanische Rhythmen, ein bisschen Elektro – so klingt der laszive Schlager "Señorita" von Camila Cabello und Shawn Mendes. Nun wurde er von der GfK-Medienforschung offiziell zum Sommerhit erklärt. Ist das nicht ein wenig oldschool?
"I love it when you call me Señorita. I wish I could pretend I didn't need ya" – so klingt er also, der Sommerhit des Jahres 2019. Das Duett "Señorita" von Shawn Mendes und Camila Cabello. Beide sind Anfang 20, sie ist US-Kubanerin, er Kanadier mit portugiesischen Wurzeln, beide sind solo sehr erfolgreich und gut bei Stimme, auch wenn man das wegen des übertrieben gefühligen Gesangs und diverser elektronischer Verfremdungen nicht mehr so deutlich hören kann. Und beide sind – wahrscheinlich, denn da kommt man schnell in trübe begriffliche Gewässer – sehr hübsche Menschen.
Zwei wahrscheinlich sehr hübsche Menschen, die sich da eine unzweifelhaft ohrenschmeichelnde Liebesbekundung zusäuseln. Ein Kollege einer Online-Ausgabe eines früher bedeutsamen Print-Mediums feiert das Lied "Señorita" mit einem regelrechten rhetorischen Feuerwerk als sommerliches Pop-Kunstwerk. Darf er gerne. Denn die alte Junge-trifft-Mädchen-Geschichte wärmt stets aufs Neue unsere Herzen. Nur: Warum ist das ein Sommerhit, wie die GfK-Medienforschung behauptet?
Wer braucht heute noch Hitparaden?
Dass es die GfK-Medienforschung in Baden-Baden, früher bekannt als Media Control, überhaupt noch gibt, ist ja erfreulich, denn da hängen Arbeitsplätze in einer stark bewaldeten und sonst eher touristisch geprägten Gegend dran. Aber man braucht solche Hinweise nicht mehr. Denn heute können wir auf Video- und Audiostream-Kanälen verfolgen, was andere gut finden. Wofür brauchen wir da noch Hitparaden, die uns nicht nur zeigen sollten, was gehört wird, sondern vor allem, was der Konsument so kauft? Damit wir es dann auch kaufen.
Kaufen müssen wir aber schon lange nichts mehr, weil wir für einen geringen Monatsbeitrag online beliebig viel Musik oder Filme abrufen können. Und anhand der Aufrufzahlen sehen wir ja, was beliebt ist – was ohnehin nur wichtig ist, wenn man wissen will, wie sehr man mit der Masse mitgeht.
Je mehr Sommer, desto weniger Substanz
Trotzdem ist das Phänomen Sommerhit spannend. Es verhält sich zur Musik nämlich meistens so wie das Sommerloch zur Nachrichtenlage: Je mehr Sommer, desto weniger Substanz.
Nur in einem veröffentlichungsschwachen Monat konnte ein Song wie "Bacardi-Feeling" ein Erfolg werden. War das wirklich eine ernsthaft gemeinte Musik-Veröffentlichung oder von vornherein ein heimlicher Werbespot der Spirituosenindustrie?
Wissenschaft über Sommerhits
Die ersten von Wissenschaftlern anerkannten Sommerhits – doch, es gibt tatsächlich welche, die sich damit ernsthaft beschäftigen, also Wissenschaftler, nicht Sommerhits, und in diesem Fall Briten – sind wohl Eddie Cochrans "Summertime Blues" von 1958 und "Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini" von Paul Vance, gesungen von Bryan Hyland aus dem Jahr 1960.
Beide feiern die warme Jahreszeit, das Nichtstun, und das gute Gefühl, nichts zu tun. Für spätere Sommerhits ist es laut Studie nicht von Nachteil, wenn sie lateinamerikanische Rhythmen verwenden – und damit sind wir wieder beim Sommerhit des Jahres 2019.
Sommerhits können die Welt verbessern
Abgesehen davon, dass eine Sommerhit-Empfehlung der Gfk heute so bedeutsam ist wie die Hochzeit eines deutschen ehemaligen Dessous-Models mit einem deutschen ehemaligen Teenie-Popstar, wie hieß dessen Band doch gleich: "Hongkong Hostel"? Also abgesehen davon darf man schon mal sagen: Sommerhits können auch die Welt verbessern.
Der von 2018 zum Beispiel, "Bella Ciao" Remix von DJ Florent Huge, ist ein Lied der italienischen Partisanen des Zweiten Weltkriegs. Es steht für Freiheit und Aufbegehren. Und wurde bei der Beerdigung des humanistischen Dramatikers Dario Fo gesungen. Das ist ein Sommerhit, durch den man möglicherweise etwas lernen kann – wenn man den stumpfen Beat erträgt. Bei Shawn Mendes und Camila Cabello hat das Anschmachten übrigens nicht nur Auswirkungen auf den Kontostand: Die beiden sollen sich auch privat nähergekommen sein.