Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)"
© S. Fischer Verlag
Der unstillbare Hunger nach Liebe
06:12 Minuten
Senthuran Varatharajah
Rot (Hunger) S. Fischer Verlag, Frankfurt 2022120 Seiten
23,00 Euro
Man hat jemanden zum Fressen gern – und verzehrt sich nach ihm, wenn er nicht da ist. Geflügelte Worte. Was aber, wenn jemand Ernst damit macht, wie der „Kannibale von Rotenburg“? Mit "Rot" legt Senthuran Varatharajah eine verstörende Studie über die Liebe vor.
Als 2001 der Computertechniker Armin Meiwes den Ingenieur Bernd Brandes wie vereinbart erst tötete und dann in Teilen verspeiste, löste dieser Fall von Kannibalismus weltweit nicht nur Entsetzen aus, sondern gab auch Rätsel auf. Denn beide Beteiligten, das stellte sich im Lauf der kriminologischen Aufklärung heraus, sahen darin eben gerade kein Verbrechen, sondern einen ausdrücklichen Akt der Liebe.
32 Tage lang hatten beide Männer sich in einem entsprechenden Forum per Mail ausgetauscht und ihren Wunsch nach einer Vereinigung zum Ausdruck gebracht, die so radikal wie endgültig sein sollte. Denn diese Vereinigung nahm die gegenseitige Einverleibung des anderen, die jeder Sprache der Liebe zugrunde liegt, beim Wort.
Per se kannibalisch
Um genau diese Aspekte einer – und das heißt unserer – Sprache der Liebe kreist der neue Roman des Autors und Philosophen Senthuran Varatharajah. Auch er wagt darin das Äußerste. Denn „Rot (Hunger)“ erzählt zum einen in Rückblenden von dem besagten Tag, an dem Meiwes und Brandes ihr Vorhaben in die Tat umsetzten.
Teils minutiös – und basierend auf kühn montierten Originalzitaten aus dem Mailverkehr – rekapituliert Varatharajah den Hergang der Tötung sowie die Vorgeschichte beider Männer und ihres Kennenlernens.
Stellenweise ist das explizit bis zur Unerträglichkeit. Und doch ist der Roman an keiner Stelle voyeuristisch. Im Gegenteil. Dies ist eine Liebesgeschichte, heißt es ebenso explizit zu Anfang des Romans.
Varatharajah erzählt deshalb eine zweite Liebesgeschichte – und verwebt beide durch raffiniert gesetzte, motivische Spiegelungen ineinander. Diese zweite Geschichte handelt von einer Trennung des Ich-Erzählers und dem Jahr danach.
Auch diese Liebe wird in Rückblenden verhandelt, wie Splitter, die man nach und nach zusammenfügen muss. Auch in diesen Passagen wird die Sprache der Liebe bis zum Äußersten getrieben. Denn Varatharajah will zeigen: Diese Sprache ist per se kannibalisch – wenn wir etwa vom Sich-Verzehren sprechen.
Die Sprache der Einsamkeit
Doch die grundlegende Frage des Autors gilt dem Hunger nach Liebe, der diese Sprache erst zutage bringt. Den legen beide Liebesgeschichten in unterschiedlicher Weise, aber mit gleicher existenzieller Drift in den Biografien aller vier Hauptfiguren wie nebenbei bloß. Und bezeugen einen letztlich unstillbaren Hunger, – dem eine je unhintergehbare Verneinung vorausgegangen ist.
Meiwes und Brandes sehnten sich nach einem anderen, der endlich für immer bei ihnen bliebe; der Ich-Erzähler wiederum ist, wie seine ehemalige Geliebte, geprägt von Flucht, Rassismus und Ausgrenzung. „Unsere Sprache der Liebe ist eine Sprache der Einsamkeit“, so sagt er an einer Stelle.
„Rot (Hunger)“ ist insofern weniger ein klassischer Roman denn eine verstörende Studie über den ebenso verstörenden Hunger nach Liebe: seine Natur und seine sprachliche Struktur. Varatharajahs Sprache selbst ist dabei so lyrisch wie unerbittlich: Sie lebt von atmosphärisch dichten und intensiven Bildern, doch das Zepter hat eine philosophische Strenge. Das macht „Rot“ (Hunger)“ zu einer Grenzerfahrung und einem literarischen Ereignis.