Serbien

Jugo-Nostalgie und vergessene Massengräber

Spielkarten, Tassen, Anstecker: Souvenirs mit dem Konterfei Titos sind im heutigen Serbien beliebt.
Spielkarten, Tassen, Anstecker: Souvenirs mit dem Konterfei Titos sind im heutigen Serbien beliebt. © Leila Knüppel / Manfred Götzke
Von Leila Knüppel und Manfred Götzke |
Die serbische Hauptstadt Belgrad ist Zentrum der Jugo-Nostalgiker: 25 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens verehren sie den Ex-Präsidenten Josip Broz Tito. Dass der Diktator Tausende Menschen ohne Gerichtsurteil erschießen ließ, ist dort allerdings selten Thema.
"Wie ein Perlenband, steht es stolz in der Mitte des Balkans, Jugoslawien, Jugoslawien", singen die Musiker im Café Korcagin. Und die Gäste singen den Top-Hit aus jugoslawischen Zeiten lauthals mit. Hier, im Café Korcagin in Belgrad, wird gesungen und getanzt – das alte Jugoslawien Titos gefeiert.
In einer kurzen Bierpause setzen die Musiker sich an ihren Stammplatz, direkt unter einem Tito-Porträt, mit Ölfarben gemalt. Daneben: jugoslawische Flaggen, alte Möbelstücke, Büsten des ehemaligen Staatspräsidenten Josip Broz Tito.
"Schau dich hier um: die Bücher, Schallplatten, Zeitungsausschnitte. Diese einfachen Dinge hier an den Wänden der Kneipe, die versetzen uns zurück, in die damalige Zeit."

Die Lieder lassen Erinnerungen aufleben

Gitarrist Ducan Golubovic kommt zwei Mal die Woche ins Korcagin, spielt nostalgische Lieder; lässt alte Erinnerungen aufleben – an die Zeit als Tito regierte, lange vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens in den 1990er-Jahren.
"Wenn es heute nach den einfachen Leuten ginge, dann würde Jugoslawien sicher noch existieren. Vielleicht sogar wachsen. Bulgarien, Albanien, Rumänien würden vielleicht dazukommen."
Beim Erzählen wird der 57-Jährige selbst ganz nostalgisch. Dass Tito ein Diktator war, dem tausende Andersdenkende zum Opfer fielen, spielt für Golubovic keine Rolle:
"Den Menschen ging es besser. Jeder konnte sich Strandurlaub leisten. Und: Es gab mehr soziale Gerechtigkeit. Die Krankenversicherung war kostenlos. Schule und Uni: kostenlos. Und der Pass. Wir brauchten nur für sehr wenige Länder Visa. Darum geht es beim Thema Jugo-Nostalgie."
Ducan Golubovic nimmt seine Gitarre, die anderen greifen sich Bass und Akkordeon – und stellen sich vor einen der Tische, an dem einige Studenten sitzen. Das Korcagin ist nicht nur bei Rentnern beliebt, sondern auch bei jungen Leuten, die sich gar nicht mehr an das kommunistische Jugoslawien erinnern, wie der 28-jährige Vuc Vucoradovic:
"Unsere Generation hat einfach nicht die Möglichkeiten wie unsere Eltern damals. Wir arbeiten, aber wir können kaum Urlaub machen oder so. Sie konnten das. Deswegen vermissen wir Jugoslawien sogar noch viel mehr als unsere Eltern."
Das Cafe Korcagin in der serbischen Hauptstadt Belgrad ist vollgestopft mit Alltagsgegenständen aus jugoslawischen Zeiten.
Das Cafe Korcagin in der serbischen Hauptstadt Belgrad ist vollgestopft mit Alltagsgegenständen aus jugoslawischen Zeiten.© Leila Knüppel / Manfred Götzke
Vor 25 Jahren erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit und setzen den Zerfall Jugoslawiens damit endgültig in Gang. Es folgten vier Kriege mit Zehntausenden Todesopfern, mehr als 600.000 Menschen mussten fliehen.

Lange Suche nach dem Grab des Vaters

Den Kopf nach vorn gebeugt, die Hände auf die dünnen Oberschenkel gestützt, sitzt ein alter Herr zwischen vergilbten Büchern und alten Dokumenten:
"Der Herrgott weiß, warum er mich am Leben gelassen hat. Ich kann nicht schweigen. Mein Vater ist erschossen von Kommunisten und liegt in einem Massengrab von Zajecar."
Jahrzehnte wusste Jovan Jovanivic nicht, wo sein Vater begraben liegt. Nun hat der 85-Jährige Gewissheit. Mit der Unterstützung von Historiker Srđan Cvetković, bei dem er im Besuchersessel verweilt.
Jovan Jovanivic: "Wir haben mit Doktor Cvetkovic endlich vor drei Jahren ein Buch gefunden. Das wurde vom jugoslawischen Sicherheitsdienst UDBA freigegeben und dort unter 441 habe ich meinen Vater gefunden. Von den erschossenen Leuten. Und da steht: Volksfeinde Jugoslawiens."
Der Historiker Srđan Cvetković holt einige Papiere aus seinem Schreibtisch. Ordentlich, mit Schreibmaschine geschriebene Listen:
"Das sind nur die Unterlagen von einem Ort. Das sind die Dokumente von den Menschen, die allein in zwei Tagen dort hingerichtet wurden. 500 Leute. Aus einem Dorf. Das erste Mal könnten wir in diesen Dokumenten sehen, dass der Staat früher sehr genau Buch geführt hat über die Hinrichtungen."
Name um Name. Blatt um Blatt:
"Wir reden insgesamt von mindestens 60.000 Menschen, die ihr Leben verloren haben. Manche von ihnen wurden ohne Gerichtsurteil einfach hingerichtet. Nur 3000 wurden angeklagt und zum Tode verurteilt. Viele starben aber auch in den Lagern. Darunter viele Zivilisten, Frauen, Kinder."

Eine "Historiker-Guerilla" von Freiwilligen

Wo früher für einige Zeit die Zentrale der Kommunistischen Partei war, ist heute das Hauptquartier der kleinen "Historiker Guerilla". So nennt Cvetković sich und seine mehr als ein Dutzend freiwillige Helferinnen und Helfer. Gemeinsam versuchen sie, zu ermitteln, wo wer zu Titos Zeiten hingerichtet und verscharrt wurde. Und das ausgerechnet hier, wo Tito früher Befehle gab.
Cvetkovics Besucher, der 85-jährige Jovan Jovanivic, ist dabei ein wichtiger Zeuge. Er ist der letzte Überlebende, der die Massengräber Titos damals gesehen hat. 1944, kurz nach den Erschießungen; als er seinen vom Geheimdienst verhafteten Vater suchte:
"Ich war zwei Tage nach der Erschießung an Ort und Stelle. Habe Schrecklichkeit gesehen. Diese Drähte von Leuten, die gebunden waren, die blutigen Stöcke, mit denen Leute geschlagen wurden. Und dann habe ich gesehen, dass die Hunde ziehen. Weil, die waren natürlich so oberflächlich begraben. Ich habe eine Hand gesehen, aus der Erde ragend. Ich habe gedacht: Vielleicht ist es mein Vater. Schrecklich war es. Ich war 14."
Damals 1944, als Titos Partisanentruppen die deutschen Besatzer besiegt hatten, gingen sie nicht nur gegen die Faschisten und deren Sympathisanten vor.
Industrielle, Großgrundbesitzer, Priester oder Royalisten fielen dem kommunistischen Regime ebenfalls zum Opfer, wurden inhaftiert, gefoltert, getötet. Alle, die der kommunistischen Ideologie vermeintlich im Wege standen.
"Mein Vater wurde Volksfeind und Kriegsverbrecher genannt. Dabei war er nur ein Kaufmann, ein Industrieller. Der hatte keinen politischen Einfluss oder gehörte einer militärischen Organisation an. Nein, der war wirklich nur Kaufmann, Industrieller. Mein Vater war wie viele, wie Hunderte, wie Tausende, ohne Begründung einfach erschossen und fertig. Ohne Gerichtsprozess natürlich sowieso."

Lange über das erlittene Unrecht geschwiegen

Jovanivic ist nicht zu stoppen. Zu lange hat er geschwiegen. Nun muss er erzählen – von dem Unrecht, das ihm und seiner Familien widerfahren ist:
"Meine Schwester, meine Mutter und ich wurden halbnackt aus dem Haus mit Gewehren rausgetrieben, auf die Straße geworfen. Ich habe hier auch kein Recht zur Schule zu gehen. Hier in Serbien war ich, wie kann ich sagen, nicht ein Mensch zweiter Klasse, sondern ein Mensch ohne Klasse. Also nur zum Erschießen. Zuerst war ich Sohn des Volksfeindes und dann war ich selbst Volksfeind."
Später floh Jovanivic nach Deutschland, studierte Medizin, arbeitete als Arzt. Aber selbst im Ausland wurde er vom jugoslawischen Geheimdienst UDBA beobachtet. So steht es in seinen Geheimdienst-Akten, in die er mittlerweile Einsicht nehmen konnte:
"Die haben mich in Deutschland auch verfolgt wie hier. Aber, mein Gott, ich bin noch am Leben.
Jovan Jovanivic steht vom Besuchersessel auf. Etwas unsicher. Aber helfen lässt er sich nicht:
"Meinen Vater habe ich rehabilitiert. Und habe sage und schreibe 700.000 Dinar bekommen für den Tod meines Vaters. Das ist lächerlich, das ist erniedrigend."
Nicht einmal 6000 Euro. Für den enteigneten Besitz hat Jovanivic noch keine Entschädigung erhalten. Doch er will weiter dafür kämpfen. Seine Klage liegt mittlerweile beim höchsten serbischen Gericht. Zehn Jahre wird er sicher noch durchhalten, glaubt er. Bis er 95 Jahre alt ist:
"Die Nachfolger von diesen kommunistischen – wie kann ich sagen – Verbrechern ... Die vertuschen alles, weil: Die wollen nicht, dass es zum öffentlichen Vorschein kommt. Aber ich lasse nicht nach, weil: Ich bin noch als Einziger am Leben Gebliebene von meiner Familie."

Der Aufklärer wird zum Nestbeschmutzer

Draußen, vor dem Museumsbau zeigt der Historiker Srđan Cvetković auf ein Graffiti. Hier im Museum stellt er seine Forschungsergebnisse aus. Nicht ohne seine Kritiker: Das Graffiti brandmarkt ihn als "bösen Kapitalisten", als Nestbeschmutzer für das serbische Vaterland:
"Es gab Proteste von Neo-Kommunisten. Ich bin für sie die dunkle Seite."
Cvetkociv lacht, seine Augen leuchten. Er stellt sich für ein Handyfoto vor die Schmierereien, grinst. Er selbst sieht sich nicht als Antikommunist, ihm geht es um Aufklärung. Dann läuft er vorweg, durch das Shopping-Einerlei der Belgrader Fußgängerzone. Seine Mitarbeiter können ihm kaum folgen.
Hier sei die Schaltstelle des kommunistischen Geheimdienstes OZNA gewesen, erzählt Cvetkovic und zeigt auf ein unscheinbar-graues, fünfstöckiges Gebäude:
"Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Menschen hierher zum Verhör gebracht, wurden gefoltert. Viele überlebten das nicht. Offiziell hieß es dann vom Geheimdienst OZNA, sie seien aus dem Fenster gesprungen, hätten Selbstmord begangen."
Cvetkovic möchte sich das Gebäude von innen ansehen. Auch wenn er nicht glaubt, Spuren von damals zu finden. Der Pförtner wirft das Historiker-Team aber nach ein paar Minuten raus.
"Wir leben in Serbien. Das ist die Realität hier. Es braucht noch viel Veränderung nach dem Kommunismus."
Vor allem der eine Ingenieur aus Cvetkovics Team ist sauer über den Rausschmiss:
"Die Hälfte meiner Familie ist von diesen Mistkerlen erschossen worden. Und nun behandeln sie uns so."
Früher, zu jugoslawischen Zeiten, durfte er darüber nicht sprechen. Sein Großvater sei im Krieg gefallen, hieß es. Jetzt hilft er ehrenamtlich im Team von Cvetkovic und möchte, dass ein Mahnmal für die Opfer des Tito-Regimes errichtet wird:
"Die Kommunisten hatten 50 Jahre Zeit für ihre Gehirnwäsche. Erst mit Gewalt, dann über Schulen und Unis, später über die Medien. Das war der Erfolg des Kommunismus. Heute kann ich zwar über das Schicksal meines Großvaters sprechen. Aber der Kommunismus steckt noch in uns allen. In der Gesellschaft, der Politik, egal, welche Regierung im Amt ist. Es gibt zwar Wahlen, aber die alte Art des Denkens ist noch immer präsent. Und viele sind noch stolz auf Tito. Und deswegen sind wir noch immer eine ziemlich gespaltene Gesellschaft."

Ein Mahnmal für die Opfer des Kommunismus

Cvetkociv setzt sich ins Auto. Die anderen Männer steigen hinten ein. Sie wollen sich den Ort ansehen, an dem das Mahnmal für die Opfer des Kommunismus errichtet werden soll. Der Historiker lenkt das Auto über die Stadtautobahn, vorbei am Haus der Blumen, wo Tito begraben liegt, in einen Villenvorort.
"Wir fahren in die Kneza Milosa-Straße, nach Dedinija. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten dort reiche Leute, Geschäftsleute. Nach dem Krieg wurden sie enteignet und die Kommunisten übernahmen die Villen. Dort, in den Vororten, haben auch die meisten Exekutionen stattgefunden, im Oktober und November 1944. Und die reichen Bewohner dort waren die ersten, die hingerichtet wurden."
Er parkt den Wagen am Rande eines Neubaugebietes. Eine letzte unbebaute Fläche ist geblieben. Ein Dschungel aus meterhohem Gras, Brennnesseln. Cvetkovic bahnt sich seinen Weg zu einem alten Brunnen:
"Wo wir jetzt stehen, war früher ein Park. Dort hinten, wo das Neubaugebiet beginnt, wurden sie hingerichtet. Dort sind die Massengräber. Tausende Menschen liegen da. Sie wurden in zwei, drei Monaten Ende des Zweiten Weltkriegs getötet. Ich habe hier als Kind gespielt – und als ich in der Erde gegraben habe, habe ich Knochen gefunden."
Überall, in ganz Serbien, befinden sich solche Massengräber, erzählt Cvetkovic. Etwa 30 allein in Belgrad. Er bekomme jedoch keine Genehmigung, um die Toten exhumieren und angemessen bestatten zu lassen.
Über den Massengräbern liegt jetzt Rollrasen. Neubauten mit Rosenbeeten, Gartenstatuen und Thuja-Hecke. Es beginnt, zu dämmern. Aus einer Einfahrt gegenüber klingt Popmusik, ein Hausbesitzer poliert seinen neuen Audi. Feierabendstimmung in einem Vorort Belgrads.
Auf dem Rückweg ins Zentrum von Belgrad passiert Cvetcovic eine weitere Pilgerstätte für Jugonostalgiker. Das Haus der Blumen.
Souvenirs in einer Vitrine im Haus der Blumen, dem Mausoleum Titos in der serbischen Hauptstadt Belgrad.
Souvenirs in einer Vitrine im Haus der Blumen, dem Mausoleum Titos in der serbischen Hauptstadt Belgrad.© Leila Knüppel / Manfred Götzke

Titos Grab als Pilgerstätte

Der ehemalige Palast des jugoslawischen Diktators Tito – und jetzt sein Mausoleum. Der Ort gilt als meistbesuchte Sehenswürdigkeit auf dem Balkan.
"Meine Mutter hat geweint als er gestorben ist – die ganze Nation hat geweint. Es war eine schöne Zeit, wir haben gut gelebt."
Die Belgraderin Anka Lubitza steht vor der Marmorplatte, unter der Tito begraben liegt. Nur wenige Touristen in kurzen Hosen und Flipflops sind zur Grabplatte gekommen, schießen Fotos. An jedem 4. Mai, dem Todestag Titos, sei das aber ganz anders, versichert Kuratorin Marija Djorgovic.
Anka Lubitza: "Es gibt hier dann lange Schlangen und eine regelrechte Prozession der Menschen, die hier eine Art Ritual praktizieren."
Die junge Historikerin beschäftigt sich mit dem Phänomen der Jugo-Nostalgie und mit dem Tito-Kult. Am Ausgang des Blumenhauses liegt Marija Djorgovic' Hauptforschungsobjekt. Das dicke Kondolenzbuch. Auf der letzten Seite steht der Eintrag eines Touristen aus Chile: "Good job, Tito." Auch Tito-Herzen und lange Dankesschreiben sind in dem Buch zu finden.
Anka Lubitza: "Seit dem Jahr 2000 sind die Einträge meist nostalgisch: Viele sehnen sich nach einem besseren Leben – und beschreiben Jugoslawien als ein Land, das es so nicht gegeben hat. Andere heben sozialistische Werte hervor, wie soziale Sicherheit, Arbeitsrechte, Anti-Faschismus."
Im Souvenirladen am Ausgang des Museums kaufen Touristen kommunistische Abzeichen, Tito-Tassen und Poster. Dass die Herrschaft des kommunistischen Staatspräsidenten Tausenden Regimegegnern das Leben kostete, wird hier im Haus der Blumen mit keinem Wort erwähnt.
Anka Lubitza: "Die Leute denken kaum daran, wie ihr Leben in der Tito-Ära wirklich war. Die Jugo-Nostalgie sagt eigentlich mehr über die Gegenwart aus, als über die Vergangenheit. Je unsicherer das Leben der Menschen heute ist, desto stärker prägt sich diese Jugo-Nostalgie aus."
Mehr zum Thema