Die Weidenkätzchen des Lazarus
In Serbien kommt an Ostern die Familie zusammen, Osterhasen gibt es aber keine, eine Eiersuche auch nicht. Das eigentliche Fest für die Kinder wird am Samstag eine Woche früher gefeiert: Dann erinnert man an die Erweckung des Lazarus, die laut Johannes-Evangelium am Tag vor Palmsonntag stattgefunden hat.
"Vrbica, so heißt der Feiertag heute", erklärt Milena, die hübsche Roma-Frau, die Weidenzweige und Weidenkränze vor der Kathedrale in Belgrad verkauft. "Habe sie selbst gepflückt und geflochten", sagt sie stolz. Lauter kleine Glöckchen hat sie auch dabei, mit denen sie unentwegt bimmelt.
Es sind Weidenkätzchen und Weidenkränze, die den Namen dem großen vorösterlichen Kinderfest in Serbien gegeben haben: "vrba" heißt auf Serbisch "die Weide", "vrbica" – das Fest, das auch noch den Namen "Lazareva subota", Lazarus-Samstag trägt. In den orthodoxen Kirchen hat der Lazarus-Samstag eine große Bedeutung, er wird als Christi Sieg über den Tod gefeiert und "kleines Ostern" genannt. An die Auferstehung von Lazarus, den Jesus dem Johannesevangelium zufolge einen Tag vor Palmsonntag von den Toten auferweckt hat, denken nur noch wenige. In Serbien ist "Vrbica" – der Lazarus-Samstag – vor allem ein großes Kinderfest. Aber auch eine Ode an den beginnenden Frühling und an das Leben.
Zoran Vrbaški, serbisch-orthodoxer Priester: "Die feierliche Prozession mit Weidenzweigen wird im Volk 'Vrbica' genannt, dieser Tag aber ist auch die Einleitung des Palmsonntags, der an die Ankunft Jesu in Jerusalem erinnert. Da bei uns keine Palmen wachsen, nehmen wir Weidenzweige und Kränze, mit denen sich Kinder schmücken. Es ist schön, dass jedes Jahr immer mehr Kinder kommen und mit uns feiern."
Den Kindern gehört das Reich Gottes
Dass Kinder für die orthodoxe Kirche in der vorösterlichen Zeit eine so große Rolle spielen, hat mit den Worten Jesu zu tun: "Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihnen gehört das Reich Gottes". Und so sind am Lazarus-Samstag überall die herausgeputzten Kleinen mit Glöckchen behangen und mit Weidenkränzen auf dem Kopf zu sehen.
Seit Tagen badet Belgrad in Sonne und Wärme, 30 Grad im April – das ist für die Serbenmetropole unerwartet und viel zu warm. Die Kathedrale des Heiligen Sava in Belgrad ist die größte Kirche der Hauptstadt. Ihre Kuppeln im neo-byzantinischen Stil überragen die Stadt. Die goldenen Kreuze glitzern in der Sonne, auf dem Platz vor der Kirche wimmelt es von Kindern jeden Alters: Babys lugen aus den Kinderwägen heraus; kleine Kinder, die gerade laufen gelernt haben, wackeln im Stolperschritt an der Hand der Eltern. Kinder im Schulalter, Jugendliche, sie alle tragen Weidenkränze und kleine Glöckchen mit sich. Luftballons fliegen in den Himmel oder werden von kleinen Händen festgehalten. "Weidenkränze, Weidenkränze, billig, billig", schallt es an allen Ecken.
Es klingelt und bimmelt überall
Jovana, acht Jahre alt, ein Weidenkranz ziert ihre blonde Mähne, erzählt, was sie erlebt hat: "Wir waren in der Kirche, haben eine Kerze angezündet, und dann sind wir raus an die frische Luft gegangen, und dann haben wir die Weidenzweige gekauft und den Kranz und die Glöckchen."
Es klingelt und bimmelt überall, der monotone Gesang der Popen trägt zur allgemeinen Kakophonie bei, Weihrauchduft liegt in der Luft. Der auferstandene Lazarus wird in einem Kinderlied geehrt.
Der Aufzug bewegt sich langsam, die Popen singen und segnen noch immer, "Vrbica" wird im ganzen Land, in allen serbisch-orthodoxen Kirchen gefeiert. In der Domkirche in Belgrad hält der serbische Patriarch Irinej die Messe, die Regierungsspitze und das diplomatische Corps sind anwesend, das Fernsehen ist live dabei, wenn der Kinderchor singt "Christus ist auferstanden, hat uns Freude gebracht".
Am frühen Nachmittag ist "Vrbica" dann zu Ende. Die Verkäufer räumen ihre Stände ab und hoffen gut verdient zu haben, die Körbe der Roma-Frauen sind leer. Was bleibt sind die vom Popen gesegneten Weidenkränze, die ein Jahr lang, bis zum nächsten "Vrbica-Fest" die Haustüren zieren werden.