"Der Kommentar überhöht den Text"
Für den Kabarettisten Serdar Somuncu ist die kommentierte Neuausgabe von "Mein Kampf" ein "Unding": Sie überhöhe einen "zahnlosen Text", der bei seinen Lesungen schon gestandene Nazis zum Einschlafen gebracht habe. Zur Abschreckung empfiehlt er die Lektüre des Originaltextes.
Der Schauspieler, Kabarettist und Buchautor Serdar Somuncu hat die im Januar erscheinende, kommentierte Neuausgabe von Adolf Hitlers Buch "Mein Kampf" kritisiert. Es sei ein "Unding", dass die bayerische Landesregierung kraft einer Verordnung immer noch den Nachlass Hitlers verwalte und sich anmaße, das Gewissen der bundesrepublikanischen Leser zu spielen, sagte er im Deutschlandradio Kultur:
"Ich glaube auch, dass das Kommentieren dieses Textes den Text eher überhöht als ihn zu entmystifizieren. Ich glaube, es gibt genug andere Dinge, die kommentiert werden müssten: AfD-Parteitagsreden, Leute, die Pamphlete schreiben in der 'Deutschen Nationalzeitung'. All das ist viel gefährlicher, es ist unmittelbarer, es ist erreichbarer als das, was in 'Mein Kampf' steht."
"Ich glaube auch, dass das Kommentieren dieses Textes den Text eher überhöht als ihn zu entmystifizieren. Ich glaube, es gibt genug andere Dinge, die kommentiert werden müssten: AfD-Parteitagsreden, Leute, die Pamphlete schreiben in der 'Deutschen Nationalzeitung'. All das ist viel gefährlicher, es ist unmittelbarer, es ist erreichbarer als das, was in 'Mein Kampf' steht."
Die Neuausgabe sei außerdem ein "Betrug am Leser", sagte Somuncu. Denn es gebe schon längst kommentierte Fassungen, alles Notwendige dazu sei in den letzten siebzig Jahren schon gesagt worden. Außerdem habe man sich den Text auch bisher halbwegs legal oder auch illegal besorgen können:
"Also was soll dieses Getue: Außer, dass die Bayern ein Monopol auf die Vermarktung von 'Mein Kampf' behalten wollen."
"Also was soll dieses Getue: Außer, dass die Bayern ein Monopol auf die Vermarktung von 'Mein Kampf' behalten wollen."
"Mein Kampf" ist ein "zahnloser Text"
Die meisten Leser von "Mein Kampf" würden vermutlich enttäuscht sein, meint Somuncu. Denn es sei ein "zahnloser Text".
"Hitlers 'Mein Kampf' funktioniert nur mit der Wahnvorstellung, davon überzeugt werden zu wollen. Und wenn Sie auf festem Boden stehen und eine klare Grundlage haben, dieses Buch lesen zu wollen – sei es, weil Sie sich davon überzeugen lassen wollen oder auch, weil Sie sich nicht davon überzeugen lassen wollen -, dann ist der Text nicht die entscheidende Beilage dazu, der sie zum Kippen bringt. Dieser Text ist so schwach, dass er Ihre Haltung nicht beeinflussen wird."
"Hitlers 'Mein Kampf' funktioniert nur mit der Wahnvorstellung, davon überzeugt werden zu wollen. Und wenn Sie auf festem Boden stehen und eine klare Grundlage haben, dieses Buch lesen zu wollen – sei es, weil Sie sich davon überzeugen lassen wollen oder auch, weil Sie sich nicht davon überzeugen lassen wollen -, dann ist der Text nicht die entscheidende Beilage dazu, der sie zum Kippen bringt. Dieser Text ist so schwach, dass er Ihre Haltung nicht beeinflussen wird."
Somuncu: "Selbst gestandene Nazis sind vor mir eingenickt"
Somuncu war sechs Jahre lang mit Ausschnitten aus Adolf Hitlers "Mein Kampf" auf Lesereise. Die Erlebnisse aus den rund 1500 Lesungen hat er in dem Buch "Der Adolf in mir" verarbeitet. Bei den Lesungen auf der Bühne habe er Hitlers Text stets kommentieren müssen, weil er kein Vertrauen in die Kraft des Originals gehabt habe, erklärte Somuncu:
"Ich hatte Angst davor, dass die Leute schon nach einer halben Stunde wegnicken. Ich musste mich anstrengen, um sie bei Laune zu halten. Ich habe es am eigenen Leib gespürt: Wenn ich 10-15 Minuten den reinen Text gelesen habe, dann sind selbst gestandene Nazis vor mir eingenickt. Und deswegen kann ich nur empfehlen: Unkommentiert wirkt das Werk am Besten."
"Ich hatte Angst davor, dass die Leute schon nach einer halben Stunde wegnicken. Ich musste mich anstrengen, um sie bei Laune zu halten. Ich habe es am eigenen Leib gespürt: Wenn ich 10-15 Minuten den reinen Text gelesen habe, dann sind selbst gestandene Nazis vor mir eingenickt. Und deswegen kann ich nur empfehlen: Unkommentiert wirkt das Werk am Besten."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Es ist das Buch, von dem bis heute immer mal wieder behauptet wird, es sei hierzulande sowieso von kaum wem je gelesen worden, obwohl ja zwölf Millionen Exemplare davon gedruckt worden sind: Hitlers "Mein Kampf". Morgen erlöschen die Urheberrechte, 70 Jahre nach Hitlers Tod.
Der Schauspieler, Kabarettist und Buchautor Serdar Somuncu – Sie kennen ihn sicher auch aus der ZDF-"heute-show" – war sechs Jahre lang auf Lesereise mit Ausschnitten aus dem Buch. 1.500 Lesungen hat er mit dem Text absolviert und was er dabei erlebt hat und was diese Arbeit mit ihm gemacht hat, dem Kind türkischer Einwanderer nach Deutschland, darüber hat er ein Buch geschrieben und ihm den Titel gegeben: "Der Adolf in mir". Mit Serdar Somuncu habe ich vor unserer Sendung gesprochen und wollte zuerst von ihm wissen, welche Erfahrungen er während dieser Lesereise gemacht hat!
Serdar Somuncu: Die Erfahrungen waren vielfältig. Von Ablehnung bis Drohung, von Zuspruch bis Skepsis auf allen Seiten, aus allen Richtungen. Also sowohl von links als auch von rechts, von Institutionen als auch von Privatpersonen, das ist kaum zu beschreiben, wie unterschiedlich und wie vielfältig die Erfahrungen waren. Ich selbst habe unter anderem das auch gelernt, dass es keine einheitliche Betrachtungsweise gibt zu diesem Thema, dass es sehr viele unterschiedliche Meinungen gibt und dass man sich eigentlich nur auf sich verlassen kann und diesen Versuch eingehen muss.
Die Lektüre von "Mein Kampf" ist eine große Herausforderung, nicht nur für die Zuschauer, sondern das war auch für mich so. Und deshalb bin ich eigentlich ganz guter Dinge, das jetzt auch nach der Freigabe Anfang des Jahres viele, die die Gelegenheit bekommen werden, dieses Machwerk zu lesen, davon eher enttäuscht sein werden.
"Eine schriftlich festgehaltene Wut-Rede"
von Billerbeck: Warum?
Somuncu: Weil es ein sehr komplexes, kompliziertes Buch ist, ohne Anfang, ohne Ende, es ist kein chronologischer Aufbau darin enthalten. Es ist weder eine Autobiografie, noch ist es ein Parteiprogramm. Es ist ein Sammelsurium aus unterschiedlichen Zitaten, die Hitler aufgeschnappt hat und in Form einer schriftlich festgehaltenen Wut-Rede dann eben in diese Fassung gebracht hat.
von Billerbeck: Es gibt ja eine kommentierte Ausgabe ab Januar vom Institut für Zeitgeschichte in München, und die ist interessanterweise doppelt so dick wie "Mein Kampf", also statt 1.000 Seiten 2.000 Seiten. Hitlers Text ist da quasi von den Fußnoten umzingelt. Halten Sie das für die einzig mögliche Art, das Buch zu lesen?
Somuncu: Nein. Nein. Abgesehen davon, dass es ein Unding ist, dass die bayrische Landesregierung kraft der Verordnung seit 1945 immer noch den Nachlass Hitlers verbreitet und sich anmaßt, das Gewissen der bundesrepublikanischen Leser zu spielen, glaube ich auch, dass das Kommentieren dieses Textes den Text eher überhöht als ihn zu entmystifizieren.
Ich glaube, es gibt genug andere Dinge, die kommentiert werden müssten, AfD-Parteitagsreden, Leute, die Pamphlete schreiben in der "Deutschen Nationalzeitung". All das ist viel gefährlicher, es ist unmittelbarer, es ist erreichbarer als das, was in "Mein Kampf" steht.
Und es ist zudem auch – das muss man ganz klar dazu sagen – ein Betrug am Leser, denn die kommentierte Fassung existiert schon längst in diversen Varianten, Christian Zentner, Barbara Zehnpfennig, Werner Maser, Ian Kershaw. Also, alles, was in den letzten 60, 70 Jahren dazu gesagt werden musste, ist dazu gesagt worden. Und dass man diesen Text illegal bis legal auch sich selbst besorgen kann, das ist auch kein Geheimnis mehr, also, was soll dieses Getue, außer dass die Bayern ein Monopol auf die Vermarktung von "Mein Kampf" behalten wollen?
Die Wahnvorstellung in Hitlers Buch
von Billerbeck: Sie sagten, es ist gar nicht so schlimm, die Leser werden eher enttäuscht, wenn sie es lesen. Das heißt, es ist ein eher zahnloser Text Ihrer Meinung nach?
Somuncu: Ja. Hitlers "Mein Kampf" funktioniert nur mit der Wahnvorstellung, davon überzeugt werden zu wollen. Und wenn Sie auf einem festen Boden stehen und eine klare Grundlage haben, dieses Buch lesen zu wollen, sei es weil Sie sich davon überzeugen lassen wollen, oder aber auch, weil Sie sich nicht davon überzeugen lassen wollen, dann ist der Text nicht die entscheidende Beilage dazu, der Sie zum Kippen bringt, sondern Sie haben vorher eine Haltung und dieser Text ist so schwach, dass er Ihre Haltung nicht beeinflussen wird.
von Billerbeck: Aber das Problem von Demagogie ist ja, oder der Knackpunkt, dass sie Wahres und Falsches vermischt. Braucht es da nicht doch eine Einordnung?
Somuncu: Das ist ja die Angst, die der Gesetzgeber, in diesem Fall die bayrische Landesregierung hat, dass der Text so stark sein könnte, dass er auch heute noch im Jahre 2015 die Menschen überzeugt. Und das meine ich mit Überhöhung, das spricht von einem gewissen Missvertrauen nicht nur gegenüber diesem Text, sondern auch gegenüber denen, die diesen Text lesen können.
Ich glaube, wenn es tatsächlich so wäre, dass die Menschen immer noch empfänglich sind für diesen Text, dann wären sie viel empfänglicher für Kinofilme, in denen Adolf Hitler als Witzfigur auftritt und endlich mal Klartext spricht. Da beispielsweise habe ich ein viel schlechteres Gefühl, in diesem Fall beispielsweise habe ich ein viel, viel undifferenzierteres Gefühl zu den Identifikationspositionen, die mir der Regisseur oder der Autor dieses Films zuweist.
In "Mein Kampf" ist das sehr klar, in "Mein Kampf" ist es allein schon durch das Wirre an diesem Text sehr schwer, Zugang dazu zu finden. Und wenn Sie sich jetzt mal hinsetzen würden und sich diese 800 Seiten zu Gemüte führen, dann würden Sie schon nach 10, 15, 20 Seiten allein schon an der mangelnden Zuordnung des Kontextes scheitern.
Erfahrungen auf der Lesereise
von Billerbeck: Ihre Lesungen haben sich aber ganz gut verkauft – jetzt in Anführungsstrichen, sondern ...
Somuncu: Kriege ich jetzt eine Stellvertreterschuld für meine Lesungen? (lacht)
von Billerbeck: Nein, um Gottes willen, Herr Somuncu, so war es nicht gemeint! Ich wollte damit eigentlich sagen, dass Sie da mehrere Jahre 1.500 Lesungen gemacht haben, sehr viele Menschen erreicht haben, auch Menschen, mit denen viele Demokraten selten in Dialog treten. Sie haben geradezu explizit dafür gesorgt, dass auch Rechte, die gegen Ihre Lesung waren oder da stören wollten, in die Lesung reinkamen. Wie waren diese Dialoge dann zwischen Ihnen als Vorleser und dem Publikum?
Somuncu: Diese Dialoge waren sehr fruchtbar. Ich suche diese Dialoge auch heute noch und schätze sie. Ich komme weiter in meinen Ansichten, wenn ich mit Menschen spreche, die andere Ansichten haben. Wenn ich nur mit Leuten spreche, die meiner Meinung sind, dann bestätige ich mich. Und das ist nicht Aufgabe meiner Arbeit.
Aber eine viel wichtigere Frage, die ich Ihnen vielleicht vorwegnehmen kann, damit Sie mich ein bisschen in Bedrängnis bringen, ist: Warum habe ich das eigentlich kommentiert auf der Bühne? Weil ich der Kraft des Textes, und zwar der mangelnden Kraft des Textes so wenig vertraut habe, dass ich Angst davor hatte, dass die Leute schon nach einer halben Stunde wegnicken.
"Ich musste die Leute bei Laune halten"
von Billerbeck: Sind sie aber nicht?
Somuncu: Ja, doch. Also, ich musste schon wirklich zwischendurch mich anstrengen, um die Leute bei Laune zu halten durch meine Kommentare. Und gerade deswegen ist das, was so paradox klingt, für mich sehr logisch. Ich habe es ja am eigenen Leib gespürt, wenn ich 10, 15 Minuten den reinen Text gelesen habe, wie selbst gestandene Nazis vor mir eingenickt sind. Und deswegen, ich kann es nur empfehlen: Unkommentiert wirkt das Werk am besten!
von Billerbeck: Serdar Somuncu war das, der Kabarettist, Schauspieler und Regisseur über Hitlers "Mein Kampf" und seine Erfahrungen mit dem Dialog der Leser mit ihm. Danke!
Somuncu: Danke auch!
von Billerbeck: Und nachzulesen sind sie auch in seinem Buch "Der Adolf in mir. Die Karriere einer verbotenen Idee". Das Interview mit Serdar Somuncu habe ich vor der Sendung geführt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.