Proben ohne Regisseur
Seit über einem Jahr steht der russische Regisseur Kirill Serebrennikov unter Hausarrest. Das Arbeiten ist für den Regisseur ist schwierig geworden. Für das Züricher Opernhaus hat er jetzt Mozarts "Cosi fan tutte" inszeniert – vom Schreibtisch aus.
Die für die Zeit seiner Quasi-Inhaftierung verabredeten Produktionen finden aber trotzdem statt – allerdings unter erschwerten Bedingungen: aus seinem Moskauer Hausarrest heraus übermittelte Kyrill Serebrennikov – über Anwälte - sein Regie-Konzept für die Züricher "Cosi fan tutte", bis in die Details. Und vor Ort sorgte sein langjähriger Mitarbeiter Evgeny Kulagin für eine adäquate Umsetzung – und zwar so penibel, dass nun eine grandiose, durchstrukturierte, vor Ideen überbordende und absolut heutige Mozart-Inszenierung entstanden ist. Es beginnt in einem Fitness-Studio. Zwei Stockwerke – oben tändeln die Frauen, unten stemmen die Männer Gewichte. Dort findet auch die Wette mit dem desillusionierten Don Alfonso statt, der den eitlen Work-out-Karrieresoldaten Ferrando und Guglielmo die sexuelle Verführbarkeit ihrer Bräute demonstrieren will.
Serebrennikov belässt es nicht bei Anspielungen auf das SMS-, Video- und Internetzeitalter, das die erotische Anbahnung so viel leichter macht. Er macht etwas Eigenes: bei Mozart verschwinden die beiden Männer nur zum Schein und kehren dann verkleidet wieder, um – überkreuz – die Treue ihrer Freundinnen zu testen. Bei Serebrennikov dagegen werden sie tatsächlich in den Krieg geschickt und mit Pomp beerdigt, sie sind den Rest der Inszenierung nur noch als schwarzgekleidete, singende, eifersüchtige Geister präsent, Untote auf Urlaub. Die Rolle der sexuellen Aufreißer übernehmen in Zürich zwei gutgebaute Doubles, Schauspieler, die nun als tätowierte Models, bisweilen auch als Scheichs (da winkt dann das Geld) oder auch als Avatare, blutrünstige künstliche Internet-Menschen auftauchen.
Serebrinnov inszinerniert Mozart frech und gewitzt
Für die beiden angeblichen Witwen ist das erotische Angebot so attraktiv, dass sie bald ziemlich viele Hüllen fallen lassen – dafür hält man sich ja fit. Und dieses von vielen Gewissensbissen begleitete, aber auch sehr körperliche Sehnen koinzidiert aufs Schönste mit der Musik Mozarts.
Kyrill Serebrennikov nutzt wieder ausgiebig Video, Beobachtungskamera und alte Filme, um der Mozart-Oper auch historische Tiefenschärfe zu geben. Wenn die Männer in den Krieg ziehen, dann wird per Film demonstriert, was das eigentlich heißt: marschieren und töten, alles bei Hormonstau und Truppen-Entertainment. Wenn von weiblicher Befreiung - möglicherweise auch durch Sex! - die Rede ist, dann wird kurz eine filmische Reprise der feministischen Emanzipationsbewegung eingespielt: "My Pussy my Rule – protect women's rights!" Die Despina ist bei Serebrennikov eine Psychoanalytikerin, die eindringlich auch zu sexuellen Experimenten rät. Dieses Angebot wird von den verwitweten und somit wieder verfügbaren beiden Frauen zunächst eher zögernd angenommen. Anna Goryachova singt die Dorabella allerdings eher forsch, während die armenische Sopranistin Ruzan Mantashyan als verunsicherte Fiordiligi gerade die melancholischen Passagen sehr schön ausarbeitet und sogar bei den kaum singbaren Koloraturen eine gewisse Lässigkeit hat. Auch in den Duetten und Quartetten ist das musikalisch von großer Wärme und Schönheit.
Cornelius Meister dirigiert die Philharmonia Zürich sehr dynamisch und auf die Szenen bezogen. Und Kyrill Serebrennikov ist ein frecher und gewitzter Bilderfinder für sehr alte Opern-Konstellationen: die beiden Frauen räkeln sich mit ihren Liebhabern, als wären sie Unterwäsche-Models. Am Ende werden sie in einer traditionellen Hochzeit wie Waren drapiert. Die musikalische Leichtigkeit der Aufführung zeigt uns, dass die Liebe ein Spiel ist – aber eines mit tragischem Grundton und vielen Verletzungen. "Free Kyrill", lasst Kyrill frei, steht auf den T-Shirts, die die Sänger beim Schlussapplaus tragen. So viel Englisch versteht sicherlich auch Wladimir Putin.