Serebrennikows "Decamerone" in Berlin

Lieder von der Liebe

07:03 Minuten
Foto von der Inszenierung: Eine Frau mit Sonnebrille blickt ins Publikum. Ein Mann schaut sie an. Schwarzer Hintergrund. Rote Leuchtbuchstaben: Ich dich nicht.
Kirill Serebrennikow führte Regie aus der Ferne. Entweder via Skype oder indem der deutsche Teil des Ensembles nach Moskau kam. © Ira Polyarnaya
Von André Mumot |
Audio herunterladen
Mit großer Verspätung kam Kirill Serebrennikows Adaption von Boccaccios "Decamerone" am Deutschen Theater Berlin zur Premiere. In Zeiten von Corona ist die Quarantäne-Erzählung nun aktueller denn je. Doch es geht nicht um Krankheit, sondern die Liebe.
Es ist ein ganz besonderer Kraftakt, der an diesem Abend am Deutschen Theater Berlin über die Bühne geht. Eigentlich sollte das "Decamerone" schon in der Spielzeit 2018/19 Premiere feiern. Daraus wurde nichts, weil Regisseur Kirill Serebrennikow, Leiter des Moskauer Gogol Centers, von August 2017 bis April 2019 von den russischen Behörden in einem mehr als umstrittenen Strafprozess unter Hausarrest gestellt wurde.
Die Neuauflage seines gerichtlichen Verfahrens hat es auch anschließend verhindert, dass Serebrennikow zu den Proben nach Berlin kommen konnte. Also entschloss sich der deutsche Teil des Ensembles, hierfür nach Moskau zu fliegen, auch während der Endproben am Deutschen Theater konnte der Regisseur nur per Skype anwesend sein.

Mit Geschichten die selbst gewählte Quarantäne überstehen

Nun aber sind die Einzelteile zusammengefügt, und die Adaption des berühmten Renaissance-Erzählzyklus hat eine weitere Aktualität hinzugewonnen. Schließlich geht es in dem von Giovanni Boccaccio zwischen 1349 und 1353 verfassten Text um eine Gruppe von Menschen, die vor der grassierenden Pest auf ein abgelegenes Landgut fliehen und sich in ihrer selbst gewählten Quarantäne Geschichten erzählen: von Liebe und Sexualität, von Betrügereien und Verrat, Geschichten, in denen die Wandelbarkeit des Schicksals beschworen und klerikale Würdenträger der Lächerlichkeit preisgegeben werden.
In seiner eigenen Isolation – während des Hausarrestes – hat Serebrennikow zehn der Geschichten ausgewählt und bearbeitet, die nun von deutschen und russischen Darstellerinnen und Darstellern zweisprachig aufgeführt werden.
Foto von der Inszenierung: Ein Mann und eine Frau sitzen auf Stühlen auf der Bühne. Über ihren Köpfen ist der Schriftzug "Mein Herz schwieg" zu lesen.
Das Ensemble schafft flirrende, zärtliche, komische und schmerzhafte Begegnungen.© imago images / Martin Müller
Das Ergebnis ist ein ausgiebiges, verspieltes, detailverliebtes Fabulieren, das in der Kulisse eines modernen Gymnastikraums stattfindet, in dem eine Gruppe älterer Frauen (Berliner Laiendarstellerinnen) der Vergänglichkeit trotzt – mit von Schauspielerin Almut Zilcher angeleiteten Leibesertüchtigungen. Das Seuchenmotiv findet sich nur noch als Überrest wieder, in Atemmasken, die beim Verlassen des Raumes übergestreift werden.

Liebe und Musik

Denn eigentlich ist hier die Liebe das große alles verbindende Thema – um Ehebrüche und Verletzungen geht es, um ungestilltes und gestilltes Verlangen, dicht an Boccaccios Originalen erzählt, mit leichten Modernisierungen: Chat-Verläufe gibt es in dieser Welt, Börsenkurse, inbrünstige Popduette.

Überhaupt spielt die Musik eine große Rolle: Drei Livemusiker begleiten das Geschehen, und die große Diseuse Georgette Dee strukturiert den Abend mit vier Liedern, die einen jeweils neuen Abschnitt eröffnen: Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Serebrennikows Regie unterscheidet sich dabei deutlich von dem, was wir im deutschsprachigen Theater gewöhnt sind, vor allem im Umgang mit der Vorlage. Bei aller szenischen Verspieltheit, bei allem (zum Teil durchaus dick aufgetragenen) Humor strahlt die gesamte Inszenierung eine ungeheure Achtung vor ihrem Material aus, vor ihren Themen, Geschichten, Bezügen. Statt ironischer Abgeklärtheit und demonstrativer Distanz dominiert hier interpretatorische wie darstellerische Innigkeit.

Großartige Schauspielleistungen

Das zweisprachige, hinreißende Ensemble schafft flirrende, zärtliche, komische und schmerzhafte Begegnungen, die schutzlos zu Ende gespielt werden. Regine Zimmermanns Beschreibung ihres toten Geliebten (ebenfalls fantastisch: Filipp Avdeew) gegen Ende des Abends ist von so stiller, fein gestalteter Intensität, dass einem tatsächlich das Herz zu brechen droht.
Sie ist ohnehin die Sensation des Abends, eine sprudelnde, kontrollierte, würdevolle Figurenschöpferin, deren Liebesbeschwörungen auch das Publikum vollkommen entwaffnen.
Am Ende, im Applaus, steht das Ensemble mit "Free Kirill"-Shirts auf der Bühne. Und geht der nächsten Premiere entgegen: In Moskau hat "Decamerone" dann am 24. Juni Premiere.

Decamerone
von Kirill Serebrennikow nach Motiven von Giovanni Boccaccio in zehn Geschichten
Regie: Kirill Serebrennikow
Koproduktion mit dem Gogol-Center Moskau
Deutsches Theater, Berlin

Mehr zum Thema