Der Gipsverband ist noch frisch
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Serhij Zhadan ist eine der bekanntesten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur und seit den Maidan-Protesten auch politisch engagiert. Sein Gedichtband "Antenne" ist dort stark, wo der Schriftsteller Alltagsszenen aus dem Krieg einfängt.
Gedichte, meint der ukraische Schriftsteller Serhij Zhadan, müssten einfach sein. Und sie müssten kurz sein. Zugleich weiß er, dass die Sprache sich selbst erschafft und sich immerzu widerspricht. So kann auch der Dichter mit Widersprüchen arbeiten, kann Gedichte schreiben, die alles andere als kurz sind, die eher Songs gleichen als Sonetten, die dort beginnen wollen, wo der Alltagswortschatz aufhört – und doch nicht immer über Klischees und "alte Melodien" hinauskommen.
Serhij Zhadan ist eine der bekanntesten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur. 1974 im Osten der Ukraine geboren, hat er das Ende der Sowjetunion und die Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine selbst miterlebt. Obwohl er sich lange Zeit einen apolitischen Autor nannte, setzt Zhadan sich spätestens seit den Maidan-Protesten in Kiew für eine prowestliche Ukraine ein, begleitet sogar humanitäre Konvois und gibt mit seiner Band Konzerte für gute Zwecke. In seinen mehr als ein Dutzend Gedichtbänden, Romanen und Erzählungen hat er sich immer wieder mit Krieg und Auflösung beschäftigt. "Internat", sein letzter Roman, zeigt den Krieg in dichten atmosphärischen Szenen als etwas, das keinerlei Sinn stiftet, gerade deshalb aber das ganze Leben verändert, dessen Gerüche und Bilder man nie vergisst – Erinnerungen, die man "mitschleppt wie Einkaufstaschen voller Steine".
Desillusionierte Soldaten
So liegt es nahe, auch Zhadans jüngstes Buch auf dieses Thema zu beziehen. "Was kann und soll die Literatur, wenn Krieg ist?", heißt es im Klappentext überdeutlich. Der Autor hat seine Gedichte eigens für diese deutschsprachige Ausgabe neu zusammengestellt. An ein kleines Prosarequiem für seinen verstorbenen Vater schließen sich Gedichte aus dem Band "Schiffsverzeichnis" an, der gerade in der Ukraine erschienen ist. Erst dann folgen die Texte aus dem titelgebenden Band "Antenne", der Gedichte von 2015-2018 umfasst.
Und tatsächlich sind in diesen älteren Texten die Szenen des Krieges noch ganz nah. Am stärksten sind die Antenne-Gedichte dort, wo Zhadan mit fast dokumentarischer Genauigkeit Bilder von der Straße zeichnet, desillusionierte Soldaten oder zwei Menschen an der Straßenbahnhaltestelle: "Der Mann hält eine Tüte / aus der Apotheke in der Hand. / Die Frau hält einen Strauß Rosen. // Der Frau fällt der frische Gipsverband / an seiner rechten Hand auf. / Ihm fällt auf, dass ihr Strauß / sechs Rosen hat."
Mal Litanei, mal Hymne
Doch insgesamt sind die Bilder vom Krieg nicht prägend für diesen Band. Vielmehr hat Zhadan seine jüngsten Gedichte als Gesänge angelegt, die mal litaneihaft, mal in Form von Hymnen daherkommen. Darin beschwört er die Liebe, die Nacht und vor allem das Gedicht selbst, andernorts versucht er religiöse Metaphorik ironisch zu brechen. Nur löst sich der Autor immer wieder von der Anschauung und versteigt sich zu Formulierungen, die jedenfalls in der deutschen Übersetzung zu Genitivmetaphern wie "Schule des Schweigens" oder "süße Sprache der Dämmerung" werden.
Die Übersetzerin Claudia Dathe hat die freie Rhythmik der Zeilen gut ins Deutsche gebracht. Gegen schiefe Bilder und den hohen Ton verworrener Schöpfungsszenarien kommt aber auch die Übersetzung nicht an. Da "quillt die Welt über vor Musik und Feuer", wird die "Ernte der Geschichte eingebracht" oder gleich der ganze "Rhythmus des Universums" besungen. "Die wahre Dichtung stützt sich / immer / auf Genauigkeit", heißt es einmal. Zhadan hat seine Maxime leider nicht immer beherzigt.
Serhij Zhadan: "Antenne", Gedichte
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
144 Seiten, 14 Euro
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
144 Seiten, 14 Euro