"Viele Ukrainer weinen in Literaturlesungen"
After Work Parties mögen andere feiern. Bei Suhrkamp lädt man jetzt ein wenig früher zur Hauslesung: um 16 Uhr, während der Arbeitszeit. In seinem Roman "Mesopotamien" setzt Serhij Zhadan seiner Heimat ein Denkmal. Er macht das ostukrainische Charkiw zur Hauptstadt eines Zweistromlands.
Serhij Zhadan: "Wer ist Evangelist? Für mich ist es der Ideal-Narrator. Der erzählt eine interessante Geschichte, erzählt Super-Thriller. Moral erklären. Das sind solche Leute, die haben ihre Erfahrung und können mit diesen Erfahrung etwas machen, können das alles erklären für andere Leute."
Von neun Figuren erzählt Serhij Zhadans in seinem neuen Roman "Mesopotamien", der das ostukrainische Charkiw zur Hauptstadt eines Zweistromlands macht. Vier davon sind Evangelisten. Sie künden von der Kraft des Erzählens. Dass für ihn zum Erzählen auch das Zuhören gehört, berichtete Zhadan immer wieder den Verlagsmitarbeitern von Suhrkamp. Mit seinem neuen Gedichtband "Marienleben" ist der Musiker und Schriftsteller gerade durch 30 Städte in der Ukraine gefahren, zu knapp 100 Lesungen in zwei Monaten mit mehr als 1000 Leuten.
"Sie haben viele Fragen, alle haben viele Fragen, aber alle haben auch etwas zu erzählen. Und mir gefällt das sehr."
Der nach Juri Andruchowytsch bekannteste Schriftsteller der Ukraine lebt in der Ostukraine, in Charkiw. Den Krieg hätten viele ja gar nicht gesehen, sagt er, aber natürlich sprächen alle darüber, alle seien voller Angst. Sie suchen das Theater, das Kino, die Lesungen wie in Friedenszeiten auf. Aber die Veranstaltungen fallen anders aus.
"Viele Leute heute weinen in Literaturlesungen. Und das ist schrecklich. Das ist schwer. Aber ich verstehe, wie wichtig es ist für uns Ukrainer, uns zu treffen, zu lesen, diese Lieder zu singen. Wenn du sprichst mit diesen Leuten ist es wie: als wenn diese Leute keine Haut haben. Studenten reagieren so, Journalisten reagieren so, das Literaturpublikum auch."
Ein Roman über den Krieg
Ob der Krieg sein Schreiben verändere, wollte Katharina Raabe wissen. Serhij Zhadan antwortete mit dem Hinweis auf seine Blogbeiträge aus den letzten fünf Jahren, die ein Verlag herausbringen wollte.
"Ich habe gelesen und dort ist sehr direkt dieser Punkt Anfang 2013, wann beginnt Maidan? Und ich habe gesehen, dass sich die Schrift sehr verändert. Und ich habe gesagt, dass wir nur diese Texte bis 2013 drucken, diese anderen will ich nicht drucken, ich brauche ein bisschen Zeit, um das zu reflektieren."
Die Figuren aus seinen Büchern "Die Erfindung des Jazz im Donbass" oder "Big Mäc" seien auf beiden Seiten zu finden, bei den Separatisten und den Ukrainern, sagte Zhadan. Jetzt schreibt er einen Roman über den Krieg: Ein Mann lebe so dahin, verachte die Politik und wache irgendwann in einem Krieg auf. So sei es auch vor einem Jahr in Lugansk gewesen, als er dort las: surrealistsich.
"In einigen Gebäuden waren schon Separatisten, in anderen die ukrainische Macht, dort war kein Krieg, dort war alles ruhig. Nur durch die Stadt waren Leute mit Waffen spazieren gegangen: viele Fahnen, russische, sowjetische, ukrainische. Aber die Leute sind zur Arbeit gefahren, zum Shopping, und sie haben gesagt: Okay, das ist Politik, das ist nicht unser Problem."
Die Politik in Kiew sei verantwortlich für die Entpolitisierung. Hoffnung hat Zhadan immerhin für die Literatur.
"Ich kann sehen, dass vielleicht in Zukunft auf uns eine neue Welle der ukrainischen Literatur wartet, wenn der Krieg beendet ist und viele Leute nach Hause kommen, und diese Leute haben etwas zu sagen, haben etwas zu schreiben."