Serhij Zhadan: "Warum ich nicht im Netz bin"
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe und Esther Kinsky
Edition Suhrkamp, Berlin 2016
170 Seiten, 16,00 Euro
Anarchische Verse aus der Ukraine
Der Ukrainer Serhij Zhadan zählt sich zu den demokratischen Rebellen des Maidan. Sein neues Buch "Warum ich nicht im Netz bin" versammelt Gedichte und Songtexte, die um den Krieg im Donbass kreisen.
Serhij Zhadan ist ein Dichter, der singt. Oder ein Sänger, der dichtet. Dass er nicht nur Songtexte schreiben kann, hat er mit seinen Erzählungen und zuletzt mit seinem wilden und zartfühlenden Roman über seine Heimatstadt Charkiw ("Mesopotamien") bewiesen.
In seinen Texten liegt immer etwas Anarchisches: Machtgefüge werden niemals einfach hingenommen, denn sie sind immer der Unbeständigkeit und der Hohlheit verdächtig, sie bröckeln von innen und außen, wie die Industriemausoleen des Donbass, wie die Wahrnehmung eines Betrunkenen oder eines Irren.
Nun ist ein neues Buch von Zhadan auf deutsch erschienen, das Gedichte und Songtexte aus verschiedenen (ukrainischen) Bänden sowie Tagebuchaufzeichnungen enthält. Aktueller Bezugspunkt ist der Krieg im Donbass.
Schießen, flüchten, stillhalten?
Zhadan, der sich zu den demokratischen Rebellen des Maidan zählt, betrachtet die Verheerungen und Ungereimtheiten des Krieges weniger aus der Sicht von Kämpfern und Soldaten als aus der Sicht von Leuten, sich plötzlich überlegen müssen, ob und wie sie nun Partei ergreifen sollen für diejenigen, die sie für die Guten halten; ob sie schießen wollen oder flüchten oder bleiben und stillhalten, solange es geht.
Zhadans Gedichte und Aufzeichnungen handeln also von der verstörenden Begegnung des ganz normalen Lebens mit der absichtsvollen Zerstörung. Vielleicht auch von Idealen, die einmal Freiheit und Friede hießen, und irgendwie nicht mehr zu finden sind. Statt dessen verlaufen Fronten und Demarkationslinien mitten durch Häuser, Familien und Freundeskreise.
Es ist eine erzählerische Lyrik, die sich ganz konkret auf das Zeitgeschehen bezieht, fragend, sich erinnernd und reflektierend in Zhadans unverkennbarer, musikalischer, weit offener Sprache.
Oft nahe der diffusen Front
Allerdings findet sich mitten im Buch unter dem Titel "Marienleben" ein seltsamer Fremdkörper: ein Konvolut gereimter Gedichte ohne Titel, von reizloser Schwerfälligkeit. Welche poetologische Idee ihnen zugrunde liegen könnte, hat sich mir nicht erschlossen.
Vielleicht eignen sie sich im ukrainischen Original zum Singen; vielleicht klingen sie da überhaupt ganz anders. Im Deutschen funktionieren sie unter der Fuchtel eines gnadenlosen Reimschemas einfach nicht.
Den zweiten Teil des Bandes bildet das "Luhansker Tagebuch", geschrieben zwischen Ende April 2015 und dem Spätsommer 2015. Es berichtet von Zhadans Reisen mit der Band zu Konzerten im ostukrainischen Konfliktgebiet, oft nahe der diffusen Front; von Gesprächen mit Leuten unterschiedlichster Meinung, von komplizierten Lebensbedingungen, von Kontrollposten, Kälte, Mangel – und von Abenden, fast normalen Abenden, mit Musik.