Queer Pop und Warhols Factory
1966 ist auch das Jahr, in dem Pop erwachsen wird und neue Themen für sich entdeckt. Auch neue Drogen. Neue Kunstformen. Und neue Sexualitäten. Eine entscheidende Figur dieser Entwicklung ist ein Nicht-Musiker, der schon fast vierzig Jahre alt ist: Andy Warhol.
"All Tomorrow's Parties", all die Parties, die da noch kommen werden, so heißt 1966 die erste Single von The Velvet Underground. Ihren Namen verdankt die New Yorker Band dem gleichnamigen Sachbuch des Journalisten Michael Leigh. Der hatte jahrelang im sexuellen Untergrund recherchiert, gewissermaßen unter der Gürtellinie: bei Gruppensexparties, in Sado-Maso-Subkulturen und in Schwulen- und Lesbenszenen. The Velvet Underground – den Namen hatte sich die Band von einem Buch des Schriftstellers Michael Leigh entliehen, das die sexuelle Unterwelt hinter den gepflegten Vorstadt-Fassaden thematisiert.
Ihren Erfolg verdanken The Velvet Underground einem Nichtmusiker, der eine Band sucht für seine Multimedia Roadshow. Exploding Plastic Inevitable – so heißt das Spektakel, erfunden hat es ein gewisser Andy Warhol.
Die größte Diskothek der Welt soll es werden, 21 Leinwände und drei oder vier Bands. Sagt Warhol in seinem bewusst ausdruckslosen Tonfall. Der erfolgreiche Maler Warhol glaubt nicht mehr an die Malerei. Es gibt da diese Band, The Velvet Underground. Das sei eine gute Möglichkeit, alles miteinander zu verbinden: Musik, Kunst, Filme. Das könnte ganz schön glamourös werden, meint Warhol.
So entsteht die Multimedia-Show: Das Explodierende Plastische Unausweichliche, auf amerikanisch klingt das eindeutig besser: The Exploding Plastic Inevitable. Der englische Pop-Historiker Jon Savage hat sich lange mit dem explosiven Jahr 1966 beschäftigt, das auch das Jahr des Andy Warhol war.
"Warhol war eine Schlüsselfigur 1966. In den USA war er natürlich eine öffentliche Person, aber zu dieser Zeit hat er seinen künstlerischen Horizont erweitert in Richtung Happening. Er hat verschiedene Kunstformen zusammengebracht, Film, Lichtinstallationen, Musik. Und er sah das alles mit dem Auge eines Malers."
Sein Blick ist nicht nur der eines Malers
Warhol ist fasziniert von der Jugendkultur und den neuen Jugendmedien. Da geht er selbst schon auf die vierzig zu. Und sein Blick ist nicht nur der eines Malers, es ist auch der Blick eines Außenseiters.
Jon Savage: "Auch wenn er zu dieser Zeit nicht darüber sprach: er war schwul. All das kam zusammen zu einem neuen Bewusstsein, das viel von dem vorwegnahm, wie wir heute leben."
He was gay, sagt Jon Savage, selbst gay, über Andy Warhol. In dem Wort Gay steckt mehr als einfach nur: homosexuell. Und Warhols Factory in Manhattan ist 1966 mehr als nur ein Atelier. Es ist ein kreatives Zentrum für alle möglichen Künste und Anlaufstelle für alle möglichen Leute, die sich nicht mit den bürgerlichen Konventionen des Mainstreams nicht abfinden wollen. Oder können. In der Factory des Andy Warhol dürfen sich die Ausgegrenzten und Ausgestoßenen neue Identitäten basteln.
Candy Darling: "I call myself Candy Warhol now."
Sie nenne sich jetzt Candy Warhol, verkündet Candy Darling und die Entourage amüsiert sich. Candy hatte einen Job in einer Imbissstube, eines Tages kam Andy rein und meinte: Du musst zum Film.
Aus dem Er wird eine Sie
So beginnt das Märchen von Candy Darling, einer der sogenannten Superstars in Andy Warhols Factory. In das sogenannte richtige Leben wird Candy Darling geboren als James Lawrence Slattery. Eines Tages rasiert sie sich die Beine und aus dem Er wird eine Sie. Holly macht es genauso.
Lou Reed: "Walk on the wild side"
"Shaved her legs and then he was a she
She said, hey babe, take a walk on the wild side,
Said, hey honey, take a walk on the wild side.
She said, hey babe, take a walk on the wild side,
Said, hey honey, take a walk on the wild side.
Candy came from out on the island,
In the backroom she was everybody's darling,
But she never lost her head
Even when she was giving head."
In the backroom she was everybody's darling,
But she never lost her head
Even when she was giving head."
In "Walk on the wild side" erzählt Lou Reeddie Geschichte von zwei unglücklichen Männern, die sich in Warhols Factory in Holly und Candy verwandeln, in Andy Warhols Superstars.
Savage: "Was das Sexuelle angeht, es gab viele Schwule in der Factory und viele starke Frauen. Es war eine ganz andere Atmosphäre als an der Westküste. Mary Woronow, eine von Warhols Superstars, sagt in meinem Buch: An der Westcoast waren sie auf LSD, wir nahmen lieber Amphetamine, die Hippiemädchen an der Westcoast wollten Brot backen und alles schön gemütlich machen für die Männer, die Frauen in der Factory wollten Peitschen schwingen und Superstars sein. Das war ein Riesenunterschied."
Die peitschenschwingende Frau hat ihren Auftritt in "Venus in Furs", Velvet Undergrounds Hymne auf den Sado-Masochismus, geschrieben und gesungen von Lou Reed, inspiriert von Leopold Sacher-Masochs Novelle "Venus im Pelz". Der junge Lou Reed musste sich auf Geheiß seiner Eltern einer Elektroschock-Therapie unterziehen, so sollte ihm seine vermeintliche Homosexualität ausgetrieben werden. Der Sound von Velvet Underground ist ein spätes Echo dieser Elektroschocks.
Auch in Groß-Britannien verschaffen sich schwule Männer 1966 erstmals Gehör, in Gestalt der Tornadoes, der Band des genialen Produzenten Joe Meek.
Savage: "'Do you come here often' war auf der B-Seite einer Single der Tornados versteckt. Ein sehr seltsamer Song, es geht los mit gut zwei Minuten instrumental, man denkt, es gibt überhaupt keine Stimme. Dann hört man Gesprächsfetzen: 'Kommst du öfter her?' Eine Anmache, so wie Schwule es tun in einem Nachtclub. Das ist etwas Besonderes, das erste Stück authentisches schwules Leben in der britischen Popmusik. Für Joe Meek war das ein wichtiges Statement, mit dem er sehr glücklich war. Es war der Beginn einer größeren Sichtbarkeit der Schwulenbewegung in Großbritannien und den USA."
Das Glück von Joe Meek sollte nicht lange halten. In England ist Homosexualität noch verboten. Meek wird verhaftet wegen Sex auf einer öffentlichen Toilette. Er wird erpresst und zusammengeschlagen, bekommt psychische Probleme. Die Diagnose: paranoide Schizophrenie. Im Februar 1967 erschießt Joe Meek zunächst seine Vermieterin und dann sich selbst.