Wenn Sitzbezüge Kult werden
Wenn wir alles wirklich genau anschauen würden, wäre dieser Alltag kaum auszuhalten. Denn vieles ist hässlich. Zum Beispiel Sitzmuster in öffentlichen Verkehrsmitteln. Marietta Schwarz geht in ihrer "Gestalten!"-Kolumne dringenden Sitzmuster-Fragen nach.
Vor ein paar Wochen tauchten in meiner Twitter-Timeline zwei Fotos auf: Sitzmuster im öffentlichen Nahverkehr, und zwar ganz nah rangezoomt.
Bild 1: Flauschiger Velourstoff mit rosa-roten, vereinzelt schwarzen Pixeln, durchzogen von einem dunklen Linien-Raster.
Und Bild 2: Ein Kunststoffbezug, fast schwarzgrundig, mit kleinen aus dem Raster tanzenden Rautenmustern in Weiß, dazwischen Pünktchen in rot gelb blau. Dieses Bild hieß "Burberry Berlin".
Weil es eben so ein bisschen wie das oldfashioned Burberry Sockenmuster daherkam. Ich kam aus London, und London war eingedeckt mit dem neuen Burberry Herbstlook. Und dann dachte ich: Berlin hat eigentlich seinen eigenen Burberry-Look. Und der ist viel cooler!
Geschmacksfaschismus
Ich fand diesen Blick auf das Alltägliche erfrischend. Auch weil sich bei mir – so sehr ich dagegen ankämpfe – stets die innere Stimme der Geschmacksfaschistin meldet, die Dinge in Schön und Hässlich einsortiert. Und diese Stimme schreit bei Sitzmustern in Bussen und Bahnen sehr laut.
Da bin ich übrigens nicht die Einzige. Vor ein paar Jahren trug eine Facebook-Gruppe namens "Sitzmuster des Todes" die heißesten Bezüge aus aller Welt zusammen. Heiß, im Sinne von: So hässlich, dass sie fast schon wieder gut sind.
Reporterin: "Sie kennen die?"
"Ja. Ich muss auch gestehen, dass da einige Stoffe von uns auch dabei sind."
"Ja. Ich muss auch gestehen, dass da einige Stoffe von uns auch dabei sind."
Die Frau, die hier eine Telefon-Beichte ablegt, heißt Kerstin Gläßel, sie ist Textildesignerin bei der österreichischen Firma Kneitz, dem Marktführer unter den Stoffherstellern für Bus und Bahn, und sie hat Humor.
Der Markt sucht nicht unbedingt schön
"Man muss aber auch dazusagen, dass die Märkte unterschiedliche Stilarten erwarten. Also es geht nicht immer darum, was schön ist, sondern was der Markt sucht."
Und der Markt sucht großformatige Muster und hohe Kontraste. Das stammt aus der Zeit, als Kids die Eddingstifte entdeckten und Kunstleder-Bezüge vollkritzelten. Die 80er-, 90er-Jahre.
Vielleicht versteht man die Muster besser, wenn man an schlimme Musik dieser Zeit denkt: Snap oder Culture Beat - so wie die den Hiphop- und Techno-Underground vereinnahmten, taten das die Sitzmuster mit den Graffitis ja irgendwie auch. Bis heute gilt: Der Schmutz muss quasi mit eingewebt werden. Wobei die Designer im Fernverkehr die Kontraste eher rausdrehen. Denn je länger die Fahrt, erklärt Frau Gläßel, desto ruhiger das Muster.
"Wenn man Deutschland sich anschaut oder auch polnische Märkte, da wird es schon immer wilder, je kürzer die Fahrt wird."
Heißt also: Im ICE werden die Augen geschont, im Nahverkehr hingegen bleibt’s grell, und das, obwohl die meisten Sitzbezüge heute aus einem Velourstoff sind, den man mit Eddingstift sowieso nicht bekritzeln kann. (Genau genommen sind diese Muster also nicht nur aus der Zeit, sondern auch aus der Funktion gefallen.) Kürzlich war ich zum Beispiel in Weimar. Auf den Sitzen im Bus erkennt man Häuserschluchten, die lichterloh zu brennen scheinen. Großstadtinferno. Alptraumhaft.
Reporterin: "Gibt es Sitzmuster in Städten, die Sie besonders gut finden?"
"Ja spontan fällt mir ein Wuppertal. Die Schwebebahn. Das ist ein grauer Stoff mit einer bunten Bordüre."
"Ja spontan fällt mir ein Wuppertal. Die Schwebebahn. Das ist ein grauer Stoff mit einer bunten Bordüre."
... mit Bordüre meint Frau Gläßel eine Streifeneinlage auf monochromem Untergrund. Und diese Bordüre erscheint ganz verspielt auf den Sitzpads an unterschiedlichen Stellen.
Geschmackvoll, modern und gar nicht langweilig sieht die Schwebebahn jetzt aus! Realisiert werden konnte das nur durch einen mutigen Kunden, sagt ein Kollege von Frau Gläßel.
Genau: Mut ist nämlich die Kategorie, um die es geht. Das denke ich auch, als Dr. Martell Beck, Marketingchef der Berliner Verkehrsbetriebe, mir einen Blick in seinen Büro-Schrank gewährt:
"Hier sehen Sie zahlreiche Preziosen, das sind jetzt Badeshorts in allen möglichen Größen. Der Klassiker ist die Krawatte, die läuft immer, die ist insbesondere bei Kollegen beliebt - das Pendant für Damen ist das Halstuch, das trägt meine Chefin besonders gerne."
Mit Hilfe einer offensiven Marketingkampagne ist das blau-rot-graue Camouflage-Muster der Berliner U-Bahn aus den 90er-Jahren inzwischen so zum Kult geworden, dass man es sich sogar anziehen kann.
Künftig wird man es auch in Berliner Bussen sehen – in Velouroptik. Alles eine Frage des Mutes. Dafür wird "Burberry Berlin" ausgemustert, was wiederum schade ist.