"Die Probleme der Meere kommen zu uns zurück"
Vor einem Kollaps in vielen Teilen der Weltmeere warnt Callum Roberts. Der Meeresbiologe fordert, weniger und sanfter zu fischen, die Verschmutzung einzudämmen und mehr Schutzgebiete einzurichten.
Dieter Kassel: Wenn Sie in diesem Sommer am Meer liegen oder dort spazieren gehen und hinausblicken auf die Weiten des Wasser, dann seien Sie vorsichtig. 95 Prozent von dem, was sich im Meer befindet, ist noch immer unerforscht. Gerade in den Tiefen tun sich Dinge, die hat noch nie ein Mensch gesehen, die haben auch Fachleute nicht gesehen, Fachleute wie zum Beispiel Callum Roberts. Er ist Meeresbiologe, Professor für Meeresschutz an der Universität York in England, und er war Berater für preisgekrönte BBC-Fernsehserien und Dokumentarfilme. Er selber beschäftigt sich auch mit der Frage, wie wir Menschen eigentlich mit dem Meer umgehen, das wir ja nicht zuletzt auch als unsere größte Müllkippe benutzen. Und diese Frage hat auch meine Kollegin Anja Krieger deshalb zuerst an ihn gestellt, wie er selber eigentlich das Verhältnis der Menschen zum Meer beschreiben würde.
"Nahrungsgrundlage von rund einer Milliarde Menschen"
Callum Roberts: Wir sind bereits seit geraumer Zeit abhängig vom Meer. Seit mindestens 140.000 Jahren nutzen wir die Ozeane als Nahrungsquelle. Es ist also ein sehr wichtiger Ort. Ganze Gesellschaften nehmen tierische Proteine vor allem über Fische und Meeresfrüchte auf. Das betrifft die Nahrungsgrundlage von rund einer Milliarde Menschen. Auf der anderen Seite nutzen wir die Meere, um dort unseren Müll loszuwerden. Wir haben uns daran gewöhnt, dass alles, was wir ins Meer lassen, auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Aber jetzt begreifen wir langsam, dass wir die wachsenden Probleme in den Meeren nicht mehr länger ignorieren können, zum Beispiel die Verschmutzung durch Kunststoffe. Da kommt jetzt das zu uns zurück, was sich in 50, 60 Jahren Plastikproduktion in den Ozeanen angesammelt hat. Auch andere Probleme haben sich verschlimmert.
Zum Beispiel gibt es immer mehr Algen und Seegras in der Ostsee, und wenn das abstirbt und dadurch der Sauerstoff verbraucht wird, entstehen Todeszonen, in denen kein Leben mehr möglich ist. Davon gibt es schon über 400 weltweit. Auch die toxischen Planktonblüten sind ein Problem. Sie können zum Massensterben unter Meerestieren führen und auch beim Menschen gesundheitliche Probleme hervorrufen. Die Probleme der Meere kommen also zu uns zurück, und das ist ein Symptom dafür, dass wir die marine Umwelt überbeanspruchen und ausbeuten.
Anja Krieger: Na ja, aber es war ja nicht immer so. Unsere Beziehung zum Meer hat sich ja durchaus verändert, und damit haben Sie sich auch beschäftigt. Können Sie mal beschreiben, wie sah das früher aus?
Roberts: Der Einfluss, den wir auf die Meere haben, hat sich sehr langsam über die Zeit entwickelt. Viele Jahrhunderte lang konnten wir so viel fischen, wie wir wollten. Wir konnten all unseren Abfall versenken, ohne mit irgendwelchen Problemen rechnen zu müssen. Es gab einfach nicht genug von uns, als dass das Probleme bedeutet hätte. Doch mit dem Wachstum der Bevölkerung und immer intensiverer Fischerei sehen wir, dass die Folgen immer weitreichender werden und immer tiefere Teile der Ozeane betreffen. Die bestände vieler Fischarten sind um über 70 oder 80 Prozent gesunken, in manchen Fällen sogar um 99 Prozent oder mehr. In der Fischerei haben wir so in großem Maße an Produktivität verloren. Dazu kommen die anderen neuen Probleme wie der globale Klimawandel. Treibhausgase wie Kohlendioxid erwärmen den Planeten, und das bewirkt auch in den Ozeanen große Veränderungen.
Bisher haben uns die Meere eine noch deutlichere Erwärmung an Land erspart, weil sie mehr von der Wärme absorbieren, die die Erde erreicht, als es die Atmosphäre tut. Wir beobachten jetzt, dass die Folgen dieser Erwärmung in den Meeren immer tiefer und tiefer reicht. Die Meere übersäuern, und mit den Folgen haben die Korallenriffe zu kämpfen, aber auch das Phytoplankton, das am Anfang der Nahrungskette steht. Wenn es weniger Phytoplankton gibt, hat das Auswirkungen auf die Fischerei und die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln für unsere wachsende Bevölkerung. Diese Probleme werden nur schlimmer, wenn wir sie einfach ignorieren und nicht genug tun, um unsere Emissionen zu verringern.
Krieger: Was, würden Sie denn sagen, könnte im schlimmsten Falle passieren, wenn wir so weitermachen wie bisher?
"Für uns wird das gesundheitliche Probleme mit sich bringen"
Roberts: Wenn wir so weitermachen, werden wir einen Kollaps der Prozesse in vielen Teilen der Ozeane erleben. Es wird immer noch Leben da draußen geben, aber es wird nicht die Art von Leben sein, die uns viel bringt. Vielleicht gäbe es dann ganz viele Quallen, aber die Ozeane wären weniger produktiv. Und sie wären schlechter in der Lage, mit dem ganzen Müll und Abwässern, die wir produzieren, umzugehen. Für uns wird das gesundheitliche Probleme mit sich bringen und ein Meer, das in Küstenregionen danach riechen wird. An manchen Orten wird es zu Schwefelwasserstoffausbrüchen kommen, wo dann der Gestank fauler Eier über der Küste hängt. Solche Probleme werden wir immer öfter erleben. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Menschen in der Zukunft nicht mehr ans Meer fahren wollen, wenn sie Urlaub machen, weil es zu gefährlich und unangenehm geworden ist. Und das ist eine wirklich schreckliche Aussicht.
Noch schlimmer allerdings ist die Vorstellung, dass sich die Mangelernährung ausbreitet, weil es weder an Land noch im Meer genug Nahrung gibt. Dass die Fischbestände schrumpfen, ist nur die eine Sache. Die andere ist, dass der Meeresspiegel steigt, weil sich die Ozeane erwärmen und das Eis schmilzt. Wenn wir nichts gegen die Emissionen tun, könnte der Meeresspiegel in unseren Küstenregionen bis zum Ende des 21. Jahrhunderts um mehr als einen Meter steigen. Und wenn wir dann immer noch nicht reagieren, könnten es in den 100 Jahren danach drei, vier oder sogar fünf Meter werden. Das wird tiefer liegende Gebiete überfluten, die zurzeit für die Produktion unserer Nahrungsmittel sehr wichtig sind. All die Reisfelder und Weizenfelder, das sind die Gegenden, die vom Meer geflutet würden.
Krieger: Sie haben jetzt so viele Probleme angesprochen, gibt es da aus Ihrer Sicht irgendeine Reihenfolge, in der wir an diese Probleme rangehen könnten?
"Die Situation der Ozeane in großem Maßstab angehen"
Roberts: Wir müssen die Situation der Ozeane in großem Maßstab angehen. Interessanterweise erreichen wir wahrscheinlich am meisten, wenn wir den Schaden verringern, den wir durch die Überfischung anrichten. Das würde die Fähigkeit der Ozeane erhöhen, all den anderen Stressfaktoren besser zu begegnen, während wir uns Gedanken machen, wie wir auch die in den Griff bekommen können. Kurz gesagt: Wir müssen weniger fischen und dabei sanftere Methoden anwenden, damit das nicht weiter Lebensräume zerstört und die Leben anderer Meerestiere kostet. Wir müssen die Verschmutzung eindämmen und mehr Gebiete schützen. Es ist wirklich extrem wichtig, dass wir so ein Paket an Maßnahmen zusammenstellen, das die Meere belebt und sie wieder produktiver macht.
Krieger: Trotz der düsteren Aussichten wirken Sie aber relativ optimistisch. Was gibt Ihnen denn die Hoffnung, dass wir das schaffen?
Roberts: Ich habe eine Menge Fortschritt erlebt in den letzten 30 Jahren. Als ich zu Anfang meiner Karriere Meeresschutzgebiete erforschte, gab es nur eine Handvoll Leute auf der Welt, die sich für diese Themen interessierten. Heute wird der Schutz von Gebieten bis hoch in die Vereinten Nationen diskutiert. Es gibt jetzt Pläne, Meeresschutzgebiete über dem ganzen Erdball einzurichten, sogar draußen auf hoher See, wo kein Land rechtlich das Sagen hat. Das ist ein wirklich bemerkenswerter Wandel, und ich glaube, dass den Menschen jetzt sehr viel stärker bewusst ist, dass es da draußen Probleme gibt, die wir lösen müssen. Ich treffe viele, die das versuchen wollen. Was wir brauchen, ist ein noch größerer politischer Wille, diese Veränderungen auch tatsächlich umzusetzen.
Kassel: Der britische Meeresbiologe Callum Roberts im Gespräch mit meiner Kollegin Anja Krieger.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.