Serie "Tagebuch aus Aleppo" - Teil 1

"Alle hier sind gefesselt"

Anwohner in Aleppos Viertel Maadi im Juni 2015
Anwohner in Aleppos Viertel Maadi im Juni 2015 © AFP / Karam al-Masri
Von Julia Tieke |
Die Proteste in Syrien begannen friedlich - inzwischen herrscht Krieg. Die achtteilige Serie "Tagebuch aus Aleppo" des syrischen Exilsenders "Radio Rooh" und Julia Tieke fangen persönliche Berichte junger Syrer aus der umkämpften Stadt ein: Drei junge Menschen aus Aleppo erzählen von ihrem Alltag im inzwischen über drei Jahre anhaltenden Krieg.
Sobhi: "Die größte Veränderung für uns ist es, so eingeschränkt zu sein. Wir sind hier alle gefesselt und alle hassen es."
Fajer: "Ich heiße Fajer und bin 26 Jahre alt. In Wahrheit heiße ich nicht Fajer. Ich habe den Namen gewählt, weil er mir viel bedeutet. In meiner Kindheit gab es einen Fajer, der für mich wichtig war und mich inspiriert hat."
Mahmoud: "Mein Name ist Mahmoud, ich bin 20 Jahre alt und aus Aleppo. Ich habe den Namen Mahmoud gewählt, weil das der Name meines Bruders ist und der Krieg uns auseinander getrieben hat. Er war Soldat in der Armee des Regimes, und seine Hand wurde von drei Kugeln durchschossen."
In Berlin sitze ich am Schreibtisch und schicke Fragen nach Gaziantep in der Süd-Türkei. Dort lebt Haytham, der den kleinen syrischen Sender Radio Rooh betreibt. Immer wieder geht er auch in seine Heimatstadt Aleppo, mitten ins Kriegsgebiet. Dorthin nimmt er meine Fragen mit...
Ich möchte Stimmen von jungen Menschen in Aleppo hören, möchte erfahren, was sie fühlen, denken, erleben.
Mahmoud: "Ich bin Teil der Jugend von Aleppo, einer, der das Leben liebt. Traurige Menschen sehe ich nicht gern, ich lache viel. Ich will immer alle glücklich machen, auch wenn sie mich verrückt nennen und auslachen. Das ist mir egal. Der Prophet sagt, es ist ein Gebot, deinen Bruder anzulächeln."
Gib Dir ein Pseudonym und erklär, warum Du diesen Namen gewählt hast.
Sobhi: "Ich bin ein junger Mann aus Aleppo, 25 Jahre alt, mein Name ist Sobhi Al Muhareb, aber in Wahrheit ist das nicht mein Name, sondern der eines Freundes, der zum Militärdienst gezwungen wurde und zum Märtyrer geworden ist. Ich habe mich also nach ihm benannt, "Muhareb", Kämpfer. Denn jeder junge Mensch in Aleppo muss kämpfen, damit er leben kann. Unser Leben ist wie Krieg."
"Traditionen hasse ich sehr"
Fajer: "Ich bin ein verträumter Mensch, gar nicht realistisch. Die Wirklichkeit ist für mich zu schwierig. Ich liebe den Schlaf. Es ist für mich viel einfacher zu träumen als in der Realität zu sein.
Ich liebe das Familienleben, sehr sogar. Ich möchte aber ein anderes Leben führen als mein Vater oder mein Großvater. Ich hätte gerne etwas Besonderes in meinem Leben."
Mahmoud: "Am wichtigsten ist mir die Moschee, wo ich lerne und viel Zeit verbringe. Manchmal bin ich sieben Stunden in der Moschee. Ich habe dort Freunde, die helfen mir. Sie lehren den wahren Glauben, Ethik. Islam bedeutet nicht Enthauptung. Der Islam ist Ethik.
Am meisten liebe ich meinen Lehrer, und am meisten hasse ich Mahshy (lacht) – wir können derzeit nicht alle Zutaten bekommen, es gibt kein Fleisch, und dann schmeckt es sehr schlecht. Es ist nur noch dem Namen nach Mahshy."
Fajer: "Traditionen hasse ich sehr. Weil ich das Gefühl habe, dass sie wie ein Film sind, der sich andauernd wiederholt, und ich hasse die Realität ja ohnehin schon. Manchmal befolge ich Traditionen, aber ich hasse sie sehr."
Sobhi: "Alle, die in Bezirken, leben, die das Regime kontrolliert, stehen unter enormem psychischen Druck. Wir stehen unter Beschuss, und die Milizen kontrollieren bis ins Kleinste unser Leben. Es kann passieren, dass dich zwar dein Vater nicht fragt, wo du warst, dafür aber der Milizionär an der Absperrung."
Mahmoud: Wenn wir durch eine Absperrung müssen, fängt der Soldat eine Diskussion an oder schlägt mich. Normale Soldaten. Oder Milizionäre, meistens Milizionäre. Mal sollen wir Dreck beseitigen, mal ihnen Geld geben, und sie schreien uns an.
Sie wollen uns erniedrigen."

Serie "Tagebuch aus Aleppo" - in acht Teilen
Drei junge Menschen aus Aleppo und Umgebung beschreiben ihren Alltag in Ton und Text. Der syrische Radiokollege Haytham Kabbani des Exilsenders "Radio Rooh" mit Sitz im türkischen Gaziantep hat das Material gesammelt und an die Autorin Julia Tieke geschickt.

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