Serie zur "Great Migration" im MoMa

Ein Kreuzweg des Leidens und der Hoffnung

Eine Ausstellungsbesucherin vor Bildern aus Jacob Lawrence's Migration-Serie im Museum of Modern Art (MoMA) in New York im März 2015.
Eine Ausstellungsbesucherin vor Bildern aus Jacob Lawrence's Migration-Serie im Museum of Modern Art (MoMA) in New York bei der Preview im März 2015. © picture alliance / dpa / Andrew Gombert
Von Andreas Robertz |
Zum 100. Geburtstag der "Great Migration" - der Massenflucht von Afro-Amerikanern aus dem rassistischen Süden - zeigt das MoMA in "One-Way Ticket" den Migration-Zyklus von Jacob Lawrence. Der schwarze Künstler war damals Teil einer sozialen Bewegung, die für mehr Selbstbestimmung kämpfte.
Lawrence' Bilder sind in matten Temperafarben gemalt, die meisten nicht größer als 30 mal 40 Zentimeter. Manche von ihnen zeigen Gruppen von schwarzen Menschen in braunen und grünen Mänteln, abstrakt und ohne individuelle Gesichtszüge wandern sie durch karge Landschaften, über ihnen ziehen Vogelschwärme am Himmel. Andere zeigen Massen, die vor Fahrkartenschaltern stehen, über ihnen die Namen der Zielorte: New York, Chicago und St. Luis.
In einem anderen Bild warten Leute im dunklen Warteraum darauf von ihren Verwandten Geld für die Zugfahrt geschickt zu bekommen. Der einzig helle Fleck im Bild ist der Fahrkartenschalter. Eine junge Frau mit ihrem kleinen Kind im Arm liest im fernen Chicago einen Brief. Im nächsten Bild schlagen weiße Männer einen schwarzen Arbeiter zu Boden. Lawrence Bilder, die er alle mit Überschriften versehen hat, sind manchmal zärtlich, dann wieder voller Gewalt. Sie erzählen vom Lynchen und von Trostlosigkeit und Armut der Südstaaten. Sie erzählen von Bahnhöfen und Zügen und der Ankunft in den Städten des Nordens, von kargen Notunterkünften, Rassenunruhen und Tuberkuloseopfern. Einflüsse von Georg Grosz, José Clemente Orozco und Diego Riviera sind unverkennbar. Die kleinen Bilder mit ihren einfachen Holzrahmen wirken wie ein Kreuzweg des Leidens und der Hoffnung, eine gemalte Geschichtsstunde in 60 Kapiteln. Dazu Kuratorin Leah Dickerman:
"Die 'Great Migration' ist ein enormes demografisches Ereignis, eins der größten in der Geschichte dieses Landes. Ein Ereignis in dieser Größenordnung verändert völlig die soziale Geographie eines Landes, seiner Städte, seiner Wirtschaft. Ich wollte, dass diese Ausstellung das zeigt. Und auch was sie in Bezug auf die Kultur verändert hat."
Die "Great Migration" brachte die kulturellen Einflüsse des Südens in den Norden, Blues und Jazz wurden geboren, die Harlem Renaissance und der Aufstieg der amerikanischen Popkultur. Künstler und Intellektuelle haben wiederholt kritisiert, dass ihre Bedeutung in der öffentlichen, meist von Weißen dominierten, Kunstdebatte unterbewertet wird; zuletzt angesichts der völlig unangemessenen Gewalt der Polizei gegen schwarze Bürger wieder sehr prominent von der New-York-Times-Autorin und Pulitzer-Peis-Gewinnerin Isabelle Wilkerson formuliert.
Historische Einordung der Migration-Serie von Jacob Lawrence
Diese Meinung teilt die Kuratorin: "Ich wollte sicher gehen, dass unsere Besucher dieses große historische Phänomen als ausschlaggebenden Katalysator für die Entwicklung der amerikanischen Kultur einordnen können."
Jacob Lawrence besuchte in den 40er-Jahren täglich die Harlem Niederlassung der New York Public Library. Hier recherchierte er, ließ sich inspirieren und sah Bilder aus dem verarmten Süden. So ist die Ausstellung mit Büchern, Gedichten, Gemälden, Karikaturen, Musik und Fotografien angereichert, die Jacob Lawrence gehört und gesehen haben mag: Wie in einer Bücherei steht das Material zur genaueren Einsicht an digitalen Arbeitsplätzen zur Verfügung. Besonders eindrücklich sind die Fotografien aus dem New Yorker Leben der 40er- und 50er-Jahre. Zum Beispiel wie eine weiße und schwarze Frau den Preis für einen Tag Arbeit auf dem sogenannten "Sklavenmarkt der Bronx" debattieren oder wie zwei spärlich bekleidete schwarze Kinder glücklich eine weiße Puppe in ihrer Mitte halten.
"Die Fotografien erinnern uns an etwas, das wir kollektiv vergessen haben: die extreme Armut, die in diesem Land während der Depression herrschte, und die Situation, die der Apartheid sehr ähnlich war."
In einem Originalfilm von 1939 sieht man vor dem Abraham Lincoln Memorial in Washington Marian Anderson singen, als erste schwarze Frau in einer öffentlichen Veranstaltung dieser Größenordnung, ein Ereignis, dass von Protesten begleitet wurde.
"Ich hoffe, dass die Ausstellung eine ähnliche Wirkung hat, wie es die Bücherei auf Lawrence hatte: dass man hierher kommen kann, ein Gedicht lesen oder einem Sänger zuhören kann. Musik hören und Gedichte lesen produziert neue Kunst."
"One-Way Ticket" ist eine liebevoll gemachte und tief berührende Ausstellung, die Jacob Lawrence' Zyklus in seinen historischen Kontext setzt. Sie hält den Besuchern deutlich vor Augen, dass die "Great Migration" nicht nur Teil der amerikanischen Geschichte ist, sondern wesentlich die Geburtsstunde dessen kennzeichnet, was heute unter amerikanischer Kunst und Kultur verstanden wird. Und obwohl die Ausstellung keinen direkten Bezug zu den Ereignissen der letzten Zeit herstellt, wirft sie ein deutliches Licht auf die schmerzliche Tatsache, dass Jacob Lawrence' Kampf um die Gleichberechtigung schwarzer Bürger in Amerika noch lange nicht zu Ende ist.
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