Serien-Highlights im Bezahlfernsehen

Fantastische Krimis, die den männlichen Blick hinterfragen

Amy Adams als Camille Preaker in der HBO-Serie "Sharp Objects"
Eine Ermittlerin, die sich ritzt und schwere private Probleme hat: Amy Adams als Camille Preaker in der HBO-Serie "Sharp Objects". © HBO/SkyAtlantic - Photographer: Anne Marie Fox
Sonja Hartl im Sespräch mit Joachim Scholl |
Der Markt ist reif dafür. Gleich vier neue Krimi-Serien im Bezahlfernsehen wagen eine feministische Perspektive. Kritikerin Sonja Hartl empfiehlt "Sharp Objects", "Dietland", "Big Little Lies" und "The Sinner".
Joachim Scholl: Das sind Töne und Stimmen aus "Sharp Objects", eine neue HBO-Serie, die seit einer Woche auch in Deutschland auf Sky Atlantic zu sehen ist. Diese Krimiserie hat einen Roman zur Vorlage, "Cry Baby" von Gillian Flynn, und steht damit in einer ganzen Reihe von buchbasierten Serien, die derzeit erfolgreich sind und eine, diese Gemeinsamkeit haben: Im Mittelpunkt stehen starke Frauenfiguren. Für die "Lesart" hat Sonja Hartl sich mal vor den Fernseher gesetzt, nachdem sie die Nase erst in die Bücher gesteckt hat. Sonja Hartl ist im Studio – guten Morgen!
Sonja Hartl: Guten Morgen!
Scholl: Sie haben insgesamt vier Bücher und Serien miteinander verglichen. Bleiben wir zunächst bei der jüngsten. Wir haben gerade ein paar atmosphärische Töne gehört – worum geht es denn in "Sharp Objects"?
Hartl: Im Mittelpunkt von "Sharp Objects" steht die Journalistin Camille Preaker. Sie wird von ihrem Chef in ihre Heimatstadt Wind Gap in Missouri zurückgeschickt, weil dort ein Kind verschwunden ist. Und das ist das zweite Kind innerhalb eines Jahres, das verschwunden ist. Und so viel kann man verraten, es wird auch am Ende der ersten Folge tot aufgefunden. Nun ist es so, dass sich ihr Chef einen persönlichen Zugang von Camille zu der Geschichte erhofft, aber auch weiß, dass sie selbst eine Vergangenheit hat, die sie immer noch nicht losgelassen hat. Auch ihre Schwester ist gestorben, als sie noch ein Kind war, und nun folgen wir Camille durch diesen Ort und wie sie versucht, ein bisschen in dem Fall zu ermitteln und sich ihrer Vergangenheit zu stellen.

Wunderbar komplizierte Frauenfiguren

Scholl: Was macht die Serie mit der Buchvorlage, dem Roman von Gillian Flynn?
Hartl: In dem Roman gibt es ja sehr viele wunderbar komplizierte Frauenfiguren, und das ist auch so die große Stärke dieses Buchs, es sind tolle Charaktere wie Camilles Mutter, das ist so eine verblassende Südstaatenschönheit, wie wir uns das vorstellen. Sie trinkt viel, sie achtet immer darauf, was könnten denn die Leute sagen, und hat so Erwartungen an ihre Töchter. Das alles ist in der Serie auch, es wird dort aber vor allem durch die wirklich hervorragende Besetzung ausgedrückt. Und dadurch bekommt die Serie mehr Raum, andere Motive auszuspielen, also zum Beispiel den angeschlagenen Ermittler, den wir aus vielen Serien kennen. Das ist normalerweise ein Mann, der in der Vergangenheit irgendwas erlebt hat, was ihn nicht loslässt, und deswegen trinkt er jetzt, klopft Sprüche und ermittelt in so einem Fall, weil er sich von der Lösung Erlösung verspricht. Und Camille hat ähnliche Strategien. Dazu kommt aber noch, dass sie sich ritzt, und das ist ein sehr weiblicher Versuch, solche Belastungen zu bewältigen.
Scholl: Aber ist das nicht dann sozusagen nur die Umbesetzung des alten männlichen traumatisierten Ermittlers – sie säuft jetzt also nicht, sondern schneidet sich in die Haut? Ist dann "Sharp Objects" nicht einfach nur eine Umbesetzung?
Hartl: Wenn es dabei bliebe, wäre es einfach nur eine Umbesetzung. Aber die Serie macht mehr als das Buch, sie traut sich mehr zu. Im Buch wird beschrieben, dass Wind Gap eine Stadt ist, die von ihren Frauen größtmögliche Weiblichkeit verlangt. Und in der Serie ist das wirklich in jedem Bild zu sehen. Wie Männer auf Frauen reagieren, wie Frauen untereinander sind, und auch, was diese Erwartung – wir reden hier ja von einer sehr klassischen Form von Weiblichkeit – und was diese Erwartungen mit den Frauen macht. Das sieht man zum Beispiel an Camille und was sie mit ihrem Körper macht.
Was sich die Serie aber vor allem traut, ist, dass sie dieses beliebte Muster des toten Mädchens aufgreift und feministisch wendet. Das kennen wir ja aus anderen Serien. Das berühmteste Beispiel ist vermutlich "Twin Peaks". Wir haben ein totes Mädchen, das aufgefunden wird, und anschließend wird vor allem von dem männlichen Ermittler oder männlichen Täter erzählt. Und normalerweise machen es Serien, die als feministisch gefeiert werden, so, dass sie weibliche Opfer vermeiden oder von selbstermächtigten Frauen erzählen. "Sharp Objects" versucht jetzt, aus diesem weiblichen Opfer, das immer als Objekt vorkommt, ein Subjekt werden zu lassen, indem der Blick gewendet wird. Und deswegen werden hier auch verletzte Körper nicht emotionalisiert, oder die sollen auch nicht schockieren, sondern sie drücken das Innere der Figur aus und werden zu so einer Form der Rache.

"Dietland" - eine "Feminist Revenge Fantasy Novel"

Scholl: Das ist auch in einer anderen Serie zu sehen, also der weibliche Körper so als Form der Rache, wie Sie das sagen, Sonja Hartl. "Dietland" ist auch von Marti Noxon entwickelt worden, genauso wie "Sharp Objects". "Dietland" basiert auf einem Roman von Sarai Walker. Was macht diese Adaption so besonders und herausragend für Sie?
Hartl: Der Roman hat schon im Untertitel "Feminist Revenge Fantasy Novel", und die Serie erfüllt all das. Es geht um eine dicke Frau namens Plum. Sie will eigentlich sich ihren Magen verkleinern lassen, aber sie gerät dann an so eine feministische Gruppierung, die sie so einer Art Therapie unterzieht.
Und parallel dazu ist eine andere feministische Gruppe namens "Jennifer" dabei, Männer zu entführen und zu töten, die Frauen Gewalt angetan haben, aber dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Das Buch bleibt nun überwiegend bei Plums Perspektive, und die Serie erweitert den Blick.
Das sieht man zum Beispiel an Plums Chefin Kitty, die in der Serie viel mehr Raum bekommt. Sie ist so eine Frau, die man früher als starke Frau bezeichnet hätte. Sie ist Chefredakteurin von einem Magazin, sie ist hübsch, sie achtet sehr auf ihr Aussehen, und sie hat es mit dem geschafft, was immer so ein bisschen als die Waffen der Frauen bezeichnet wird, was aber letztendlich so eine Mischung aus Anziehungskraft, Schmeichelei und sexuellen Gefälligkeiten sind. Und sie erkennt nun, da ist Feminismus, und sie erkennt vor allem dieses Marketingpotenzial von Feminismus. Und damit erweitert die Serie aber mit der Figur den Blickwinkel auf verschiedene Frauentypen und auch auf das, was Feminismus alles sein kann.

Frauenfreundschaften als Belohnung

Scholl: Wenn Sie jetzt vom erweiterten Blickwinkel sprechen, Sonja Hartl, inwiefern gehen Sie denn weiter aber auch, konkret weiter als die zugrunde liegenden Bücher? Heißt das, dass sie schärfer sind, irgendwie radikaler in der Zuspitzung, thematisch auch?
Hartl: Das sind oft tatsächlich manchmal nur Kleinigkeiten, an denen man das sieht, die aber dafür sorgen, dass die ganze Serie ein wenig radikaler wird. Zum Beispiel bei "Big Little Lies" geht es ja um eine Gruppe von Frauen, und es geschieht etwas. In dem Buch und in der Serie läuft alles auf so eine finale Szene heraus, und im Gegensatz zu dem Roman sind in der Serie dann dort nur Frauen anwesend, und sie beschließen zu lügen, und sie bleiben auch alle bei der Lüge. Und als Belohnung bekommen sie dann eben keine neue Liebe oder eine heterosexuelle Beziehung, sondern Frauenfreundschaften. Eine andere Rolle spielt natürlich das Medium, in dem es vermittelt wird, weil Serien oft noch konventioneller sind als Bücher. Und deswegen ist es bei "Dietland" schon so, dass, allein eine Serie darüber zu drehen, dass eine dicke Frau nicht abnimmt, um glücklich zu sein, ist eine kleine Revolution.
Scholl: Das sind jetzt aber auch inhaltliche Abweichungen vor allem. Zugleich stehen aber Serien ja auch andere erzählerische Mittel zur Verfügung, allein durch das Bild. Wie wirkt sich das aus?
Hartl: Das sieht man sehr schön an "The Sinner", das ist die vierte Serie, die ich geschaut habe, basierend auf einem Roman von Petra Hammesfahr. Dort hat die Hauptfigur scheinbar grundlos einen Mann ermordet, und sie wird immer von Erinnerungen heimgesucht. Und diese Erinnerungen beginnen immer mit Bildern von einer Tapete. Und so, wie das gezeigt wird, ist ganz klar, dass die Serie auf den Roman "Die gelbe Tapete" verweist von Charlotte Perkins Gilman. Das ist so ein feministischer Klassiker über Psychose und weibliche Unterdrückung, und damit erweitert die Serie den Kontext.

Hauptfigur und Zuschauer verlieren die Orientierung

Und gerade, wenn es um Erinnerungen geht, ist auch "Sharp Objects" sehr, sehr eindrucksvoll, weil Camille wird ja von ihrer Vergangenheit heimgesucht, und es gibt nun in der Serie keine dezidierten Flashbacks, sondern das sind so assoziative Bildfolgen, die wirklich mit einem bemerkenswerten Schnitt verbunden sind, sodass Camille zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und hergleitet und zunehmend die Orientierung verliert, aber der Zuschauer auch mit ihr.
Scholl: Vier Serien haben Sie analysiert, Sonja Hartl, "The Sinner", "Big Little Lies", das sind die älteren, nun "Dietland" und "Sharp Objects". Man könnte ja sagen, also diese feministischen Serien, die bilden einen richtigen Trend?
Hartl: Ich glaube, ja, dass es da einen Trend gibt. Das hat natürlich zum einen was mit einer Nachfrage zu tun. Alle diese Serien laufen in Deutschland bei Bezahlsendern, in den USA bis auf "The Sinner" auch alle, und ich glaube, diese Sender haben erkannt, es gibt eine Nachfrage nach dieser Art von Geschichten. Zum anderen aber glaube ich auch, dass sich die Art und Weise verändert, wie wir Geschichten erzählen, denn gerade in Filmen und in Serien - der Blickwinkel, der dort angewandt wird, den wir als allgemein empfinden, ist aber in der Regel ein männlicher Blick. Und damit hängen wiederum so bestimmte Tropen zusammen wie das tote Mädchen oder die starke Frau oder das Vergewaltigungsopfer, das sich rächt. Und diese Serien greifen das nun an und hinterfragen das, und es ist wirklich ganz fantastisch.
Scholl: Die neuen weiblichen TV-Serien und ihre literarischen Vorlagen. Sonja Hartl hat für uns sortiert und analysiert. Vielen Dank Ihnen dafür. Die Buch- und Serientitel, wo sie erschienen sind, wo sie laufen, das steht übersichtlich für Sie im Netz unter www.deutschlandfunkkultur.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Besprochene Serien:

"Sharp Objects", HBO/Sky Atlantic – nach "Cry Baby" von Gillian Flynn
"Dietland", AMC – nach "Dietland" von Sarai Walker
"Big Little Lies", HBO/Sky Atlantic – nach "Big Littler Lies" von Liane Moriarty
"The Sinner", USA Network/Netflix – nach "Die Sünderin" von Petra Hammesfahr und Motiven aus "Die gelbe Tapete" von Charlotte Perkins Gilman

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