Serien-Tipps für Bücherfreunde

Wenn die Verfilmung besser ist als der Roman

07:09 Minuten
Szene aus der Serie "Pachinko". Zu sehen ist eine ältere asiatische Frau.
Die Serie "Pachinko", die die Besetzung Koreas durch Japan 1910 und deren Folgen thematisiert, ist sinnlicher als die Romanvorlage von US-Autorin Min Jin Lee – sagt Literaturkritiker Stefan Mesch. © Courtesy of Apple
Von Stefan Mesch · 13.12.2022
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Bücher werden immer öfter zu Serien anstatt zu Filmen. Das gibt mehr Raum für die Umsetzung. Und immer wieder übertrifft das verfilmte Produkt sogar die Vorlage. Literaturkritiker Stefan Mesch mit Tipps, welche Serien auf Literaturbasis sich lohnen.
Aus kurzen Büchern werden immer längere, oft überraschend frei erzählte Serien. Was als Zwei-Stunden-Film gehetzt und eindimensional bleiben müsste, hat in sechs, acht oder zwölf Episoden genug Raum. Oft sind die Serien durchdachter als die literarische Vorlage – einfach, weil nochmal ein ganzes Team mit diesem Stoff gearbeitet hat. So vertiefen beispielsweise "The Leftovers" (nach Tom Perrotta) und "The Handmaid's Tale" (nach Margaret Atwood) die Grundideen ihrer Romanvorlagen.
2022 starteten mehr Romane – und überraschend viele Sachbücher – in einer Serienversion als je zuvor. Besonders Apple TV versucht oft, etwas sperrige Bestseller in aufwendigen Serien zu politisieren und zu vertiefen: "Five Days at Memorial" (nach Sheri Finks Sachbuch) ist die beste aktuelle Serie, die ich 2022 sah.
Auf Amazon überzeugt die feministische Satire "Made for Love", nach Alissa Nuttings trost- und ideenloserer Buchvorlage. Auch "Interview with the Vampire" (2022) ist deutlich besser als Anne Rice‘s Romanvorlage von 1976.
Selbst deutschsprachige Literatur wird immer öfter zur Serie anstatt wie gewohnt zum TV- oder Kinofilm: Thomas Pletzingers "Bestattung eines Hundes" (2008) lief 2022 als "Funeral for a Dog" auf Sky. 2023 erscheinen Serien zu "Deutsches Haus" (Annette Hess), "Nackt über Berlin" (Axel Ranisch) und die britische Serie "Then you run" nach Zoran Drvenkars Thriller "Du".

Fünf Serien, die besser sind als ihre Vorlage:

Mood (BBC 2022)
nach dem Bühnenmonolog "Superhoe" (Nicôle Lecky, 2019)
6 Episoden in einer Staffel, abgeschlossen
Deutsch als Video on Demand u.a. bei Amazon

Die BBC-Serie "Fleabag" (2016) fußt auf einem feministischen Theatermonolog und war ein großer Erfolg. Nun ist eine neue Serie daraus entstanden. Nicôle Lecky, geboren 1990, ist Theaterautorin und schrieb für sich die Rolle der Sängerin Sasha, die mit Stripshows vor einer Webcam bekannt wird anstatt mit Musik. Bald hört sie, ihr Albumprojekt "Superhero" solle besser "Superhoe" heißen: Super-Flittchen. Der Monolog gelingt durch Leckys Wortwahl – denn Sasha reagiert oft überraschend rabiat oder verletzlich, und es macht Spaß, wie aus ihren Beschwichtigungen, Übertreibungen und Auslassungen langsam ein realistischeres Bild der Kämpfe einer Sex-Arbeiterin, Ich-AG und Influencerin of Color wächst. Die deutlich bessere Serie „Mood“ aber erzählt noch weitaus direkter und plastischer, hat mehr Zeit für Nebenfiguren und intensive Bilder. Sie kritisiert den neoliberalen Erfolgsdruck deutlich stärker als die vermeintliche "Gier" oder den "Leichtsinn" gestresster Escorts Mitte 20. Ein starker Moment des Theaterstücks aber hätte eine Zusatzfolge verdient: Als Sasha eine ungewollte Schwangerschaft beenden will, fühlt sie sich medizinisch halbwegs betreut und versorgt – bis sie sagt, das sei ihr bisher dritter Abbruch. Sofort, sagt Sasha, verschwinden jedes Verständnis und jede Solidarität.

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Pachinko (Apple TV+ 2022)
nach dem Roman "Pachinko - ein einfaches Leben" (Min Jin Lee, 2017)
8 Episoden in einer Staffel, wird fortgesetzt
Deutsch auf Apple TV+

Kleine Stahlkugeln rasseln durch Hindernisse und Leitwege ins Aus oder Richtung Jackpot: Pachinko ist eine Mischung aus Murmelbrett und Flipperautomat, und die Pachinko-Spielhallen in Japan werden oft von Menschen aus Korea betrieben, deren Eltern und Großeltern nach der Besetzung Koreas durch Japan (1910) vom "Gastland" als Arbeitskräfte ausgebeutet wurden. In einem gediegenen, doch sprachlich recht glanzlosen Schmöker-Bestseller erzählt die US-Autorin Min Jin Lee von Sunja, die von Busan nach Osaka reist und deren Söhne und Enkel sich nur mühsam eine Existenz in Japan aufbauen können. Durch viele Perspektivwechsel, Tragödien und Zeitraffer wirken die vielen Geschichten bis 1989 oft etwas blass, beliebig und grausam: wie zahllose Kugeln, die überall anecken und rasch ins Abseits prasseln. Die Verfilmung ist sinnlich, viel langsamer und intensiver. Sie gibt sich große Mühe, auch die politischen Dimensionen – bis hin zu Pogromen gegen Koreaner in Yokohama 1923 – an toll gespielten, charismatischen Figuren aufzuzeigen. Nur schade, wie oft die Serie auf große, heroische und eher "amerikanische" Gesten und Konfrontation setzt – während dieselben Rollen im Buch oft introvertiert, nervös und gesucht un-heroisch bleiben dürfen.
Fleishman is in Trouble (FX/Disney 2022)
nach dem Roman "Fleishman steckt in Schwierigkeiten" (Taffy Brodesser-Akner, 2019)
8 Episoden in einer Staffel, abgeschlossen
Deutsch auf Disney+

Hätte Harald Schmidt schon Mitte der 90er-Jahre eine "bissige" Satire über reiche Paare in Stuttgart verfasst, die sich für progressiv und aufgeklärt halten: Die Argumente und Pointen könnten kaum gestriger klingen als Taffy Brodesser-Akners laues New-York-Geplapper über ein Ehepaar, das sich im Sommer 2016 mit Anfang 40 scheiden lässt. Arzt Toby hält sich für zugewandt und sensibel, doch braucht so viel Bestätigung und Gehätschel, dass Rachel, die in Armut aufwuchs und als Einzelkämpferin eine Talentagentur führt, alle Nerven verlor. Buch und Serie erzählen im selben sarkastisch-müden Plauderton von trostlosen Yoga-Kursen, trostlosen Elternabenden und trostlosen Sexdates in der Upper East Side: Die Autorin schreibt Porträts und Lifestyle-Artikel für die „New York Times“ und hat alle Reizbegriffe, Schein-Debatten, Buzzwords und Markennamen zum Thema "bürgerliches Schnöseltum, schnöseliges Bürgertum" in einen Nicht-Plot ohne Schwung und Herz gekippt. Dass die Serie diese Konsumwelten nachbaut und zeigt, macht etwas mehr Spaß, als die vielen ätzenden Reizworte nur zu lesen. Und dass viel Publikum 2022 Lust hat auf acht Stunden gestrige Lifestyle-Kolumne als TV-Dramedy, ist ein gutes Zeichen: Viel bessere Bücher warten auf viel bessere Verfilmungen!

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I know this much is true (HBO 2020)
nach dem Roman "Früh am Morgen beginnt die Nacht" (Wally Lamb, 1998)
6 Episoden in einer Staffel, abgeschlossen
Deutsch auf Wow (vormals Sky Atlantic)

In "The Normal Heart" (2014, nach Larry Kramers lesenswertem Theaterstück) spielt Mark Ruffalo einen HIV-Aktivisten, dessen Wut, Hilflosigkeit und Ungeduld jede Szene überfluten. Beachtlich, dass Ruffalo 2020 in "I know this much is true" eine Figur mit derselben Grundhaltung zeigt in ganz ähnlichen, oft unerträglichen Szenen – doch der Figur ein komplett anderes Gemüt, einen anderen Habitus lässt: Dominic ist 40 und hat einen paranoid-schizophrenen Zwillingsbruder, Thomas (auch diese enttäuschend kleine Rolle wird von Ruffalo gespielt). Als sich Krankheiten, Zufälle und Druck von außen so absurd häufen, dass alle Strukturen wegbrechen, die Dominic genug Halt geben, um seinem Bruder Halt zu geben, muss der 1949 geborene, kratzbürstige Arbeiter entscheiden, wie er in Zukunft sprechen, um Hilfe bitten, auftreten kann. Wally Lambs kompetent, doch recht lethargisch erzähltes 900-Seiten-Buch brach ich ab. Auch die Serie hat viele schleppende Momente und gibt besonders Thomas viel zu wenig Raum und Tiefe. Doch dass eine Serie über einen Mann, der lange kaum vom Fleck kommt, selbst kaum vom Fleck zu kommen scheint, trügt: So vielschichtig, komplex, eindrücklich und unsentimental wird selten über Sorgearbeit und Pflichtgefühle erwachsener Söhne erzählt.

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High School (Amazon Freevee 2022)
nach der Autobiografie "High School" (Sara Quin und Tegan Quin, 2019)
8 Episoden in einer Staffel, Fortsetzung ist geplant
noch nicht auf Deutsch zu sehen

Tegan und Sara Quin sind Zwillinge, geboren 1980 in Calgary (Kanada) und veröffentlichen schon seit Ende der 90er-Jahre Alben. In "High School" erinnern sich die beiden lesbischen Indie-Folk-Stars an drei Schuljahre bis 1998 und erwähnen dabei sehr kleinteilig zahllose unübersichtliche Cliquen und Freundschaften. Die beiden Erzählerinnen im Buch wirken zunächst faszinierend offen, ungeschönt und komplex – doch vielleicht sollen die realen Menschen von damals geschont werden, oder Tegan und Sara haben Angst, zu abwertend zu klingen, indem sie deutlich aussprechen, was sie an einzelnen Mädchen und Verwandten stört oder abstieß: Nähe wächst oder verpufft hier immer wieder wie aus dem Nichts, und dass eine 15-Jährige die Gründe dafür nicht benennen kann oder will, verstehe ich gut. Bei einer fast 400 Seiten langen Rückschau mit Ende 30 aber erwartete ich mehr Analyse, Selbstkritik und Konkretisierung. Die Verfilmung gibt Figuren (die auf realen Menschen basieren) viel mehr konkrete Kanten, Traumata und Motivation – und wirkt dabei wie eine arg verlangsamte, doch sehr herzliche, lesbische Version der 90er-Kultserie "Willkommen im Leben". Mit den ganz realen Umständen der Jugend der Quin-Schwestern hat dieses Kleinod darum wohl deutlich weniger zu tun als das Buch. Doch alles wirkt so stimmig und durch elegante, überraschende Perspektivwechsel auch mehrdimensional: Lieber ein kluges "Teen Drama" voll nachvollziehbarer Figuren als ein Bericht voller Leute, die zwei Autorinnen bis heute nicht so recht verstehen – oder verständlich und publik machen wollen.

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