Rückblick aufs Serienjahr 2022
Auf der Suche nach der Vergangenheit: Die Figur von Mackenzie Davis muss sich in einer dystopischen Welt zurechtfinden. © HBO Max / The Hollywood Archive
Sinn und Suche
05:32 Minuten
Es sind meist Superlative, mit denen Streamingdienste ihre Eigenproduktionen anpreisen. Zu groß ist das Angebot, das auch 2022 auf uns eingeprasselt ist. Anna Wollner mit einem kleinen, natürlich persönlich geprägten Rückblick auf das Serienjahr.
Bringen wir es direkt hinter uns. Erwähnen wir einfach direkt die großen Prestigeobjekte, die eh alle geguckt haben – oder zumindest behaupten geguckt zu haben. "Herr der Ringe", die teuerste Serie aller Zeiten, der Game-of-Thrones-Ableger "House of the Dragons", die zahlreichen Star-Wars-Serien um „Das Buch von Boba Fett“ oder „Andor“, die seriellen Ergänzungen zum Marvel Cinematic Universe wie „She-Hulk“ oder „Moonknight“.
Das neue Normal
Widmen wir uns doch den Serien, die vielleicht nicht jeder auf dem Schirm hatte. Wie "Station Eleven". Wobei, das kann auch an der erschreckenden Parallele zu unserer Gegenwart liegen:
„Station Eleven“, eine Romanadaption als HBO-Max-Miniserie, handelt von den Folgen einer globalen Pandemie. Eine Schweinegrippe rafft innerhalb von Tagen 99 Prozent der Weltbevölkerung dahin. Die Serie interessiert sich nie für das „Wieso, weshalb, warum“, sondern für das Danach.
2040 ist das neue Normal, Autos werden von Pferden gezogen, iPhones gehören ins Museum, die Überlebende Kirsten tingelt mit einer Shakespeare-Truppe über den Kontinent und versucht den wenigen Überlebenden zu vermitteln, warum Kunst – in dem Fall Theater – auch in der Postapokalypse verbindet.
„Überleben reicht nicht“ ist das Motto der Gruppe, Patrick Sommerville erzählt fulminant elliptisch von der Zeit davor, der Zeit mittendrin und der Zeit danach.
Schnippeln, schneiden, schwitzen
Ganz anders futuristisch kommt „Severance“ von Ben Stiller daher. Eine Workplace-Serie, wie sie es 2022 viele gab, etwa „Loot“ oder „Hacks“. „Severance“ ist eine hypersterile, minimalistische Science-Fiction-Serie, in der die Work-Life-Balance auseinanderdriftet, in der die Arbeitnehmer der Lumon Industries durch einen operativen Eingriff während der Arbeitszeit ihr Privat-Ich aufgeben.
Bleiben wir noch kurz beim Workplace. Eine der besten Serien des Jahres ist „The Bear“, der Arbeitsplatz hier ein ranziger Sandwichladen in Chicago, frisch übernommen von Carmy, dem Bruder des Vor-Besitzers, der sich das Leben genommen hat. Carmy, von Hause aus Sternekoch, krempelt den Laden einmal um, sehr zum Missfallen seiner Angestellten.
Noch nie wurde in einer Serie, sei es Kochshow oder fiktive Serie, die Essenszubereitung so dargestellt wie hier. Das hektische Arbeiten auf beengtem Raum, das Schnippeln, Schneiden, die Befehle, der raue Ton untereinander. Der Stress ist vorprogrammiert, das Hungerhaben nach dem Bingen übrigens auch.
Stress ganz anderer Natur gab es in der dreifach emmygekrönten Serie „Abbot Elementary“, bei uns auf Disney Plus. Eine Mockumentary-Sitcom über eine öffentliche Schule in Philadelphia. Überforderte Lehrer, überforderte Schüler, ein überfordertes System.
"Dahmer" hat den Täter im Fokus
"Abbot Elementary" ist eine Serie, die in Deutschland leider komplett untergangen ist. Ganz anders als die Netflix-Serie „Dahmer“, die auf den Trend des True-Crime-Hypes aufgesprungen ist und sehr explizit und drastisch vom Monster von Milwaukee, einem der grausamsten Serienmörder des 20. Jahrhunderts, erzählt.
Allerdings, soviel zur Warnung, romantisiert und verharmlost die Serie den Massenmörder Dahmer. Sie hat wie so oft den Täter im Fokus und nicht die Opfer.
Und die Deutschen? Produzieren wie am Fließband. "Babylon Berlin" Staffel vier, "1899", das Prestigenachfolgeprojekt der "Dark"-Macher, die DDR-Agentenposse "Kleo" mit Jella Haase, das Remake einer erst israelischen, dann amerikanischen, jetzt deutsch-österreichischen Serie „Euer Ehren“, die zweite Staffel von „Der Pass“, gleich zwei Sissi-Serien mit „Die Kaiserin“ und der zweiten Staffel von Sissi oder die vermeintliche Entlarvung des Börsengrößenwahns in „King of Stonks“ im Stile von „The Big Short“ oder „Wolf of Wall Street“.
Bleiben wird wenig aus diesem Serienjahr. Eigentlich nur die Angst, auch 2023 irgendwas zu verpassen und das Gefühl den Überblick verloren zu haben im Überangebot der Streamingdienste und im Überangebot der Serien. Und am Ende, nach stundenlangem Suchen, doch wieder eine Folge „Friends“ zu gucken.