Seweryna Szmaglewska: Die Frauen von Birkenau
Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Marta Kijowska
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020
456 Seiten, 28 EUR
Kühler Blick auf den grausamen Lageralltag
06:23 Minuten
Die polnische Soziologin Seweryna Szmaglewska veröffentlichte bereits 1945 ihren Bericht über das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Sie war selbst dort inhaftiert. Die sprachliche Ausdruckskraft des Buches ist ein Wunder, sagt unser Rezensent.
Die deutsche Erinnerung an die Shoah kann ohne bestimmte Phrasen nicht bestehen. Über Berichte von Überlebenden heißt es meist, dass sie "ergreifend" und "erschütternd" seien, aber schließlich doch von "Mut" und "Lebensfreude" zeugen. Davor sind selbst verdienstvollste Veröffentlichungen nicht sicher. So wird "Die Frauen von Birkenau", das nach 75 Jahren zum ersten Mal auf Deutsch erscheint, vom Verlag als "eindringliches Plädoyer für die Menschlichkeit" verkauft.
Dabei beschreibt Seweryana Szmaglewskas Bericht über ihre dreijährige Haft in Auschwitz-Birkenau das genaue Gegenteil: mit kühlem Blick fängt sie den grausamen Lageralltag, die Verrohung und die Machthierarchien ein, nicht als Ich-Erzählung, sondern möglichst allgemeingültig.
Die soziologische Ausrichtung ihrer Beobachtungen ist kein Zufall.Bis zum deutschen Überfall auf Polen studierte Szmaglewska Soziologie in Warschau und arbeitete als Schriftstellerin und Journalistin. Sie war nichtjüdische Polin und kam auch als solche nach Birkenau, nachdem ein SS-Mann das Zurechtschieben ihrer Brille auf der Straße als geheimes Widerstandssignal deutete. Im Lager ist sie in der "Effektenkammer" eingesetzt, wo die Besitztümer der Häftlinge und Ermordeten gesammelt und durchgesehen werden.
SS-Deutsch und jiddische Verballhornungen
Weil das gehäufte Raubgut an ein reiches, fernes Land erinnert, wird dieser Bereich "Kanada" genannt. In Szmaglewskas Bericht taucht solcher Lagerjargon zwischen SS-Deutsch, polnischen und jiddischen Verballhornungen und freien Assoziationen häufig auf. Sie selbst gehört zu den "efingerki", den Frauen, die dem Kommando von SS-Mann Gerhard Effinger unterstellt sind; für die Häftlinge dreht sich alles um das "Organisieren: das Nötige beschaffen, ohne dabei jemandem zu schaden". Die Häftlinge, die als "Kriminelle" nach Auschwitz gekommen sind, missachten dieses Prinzip. Für sie hat Szmaglewska nur Verachtung übrig, so wie ihr Blick auf die anderen Häftlingsgruppen oft das Fremde betont, oder in hässlich und schön einteilt: da gibt es "zottige Zigeunerinnen", aber auch Griechinnen, die "die exotische Schönheit ihres Landes mit sich bringen".
Besonders harte Worte hat sie für das "Sonderkommando", jene jüdischen Häftlinge, die zur Beihilfe am Mord gezwungen wurden. Szmaglewska beschreibt sie als "betrunkene Juden", die ihre sterbenden jüdischen Brüder genauso wie die SS-Männer behandeln: ein trauriges Beispiel dafür, wie "der Mensch sich in dem brennenden Dschungel namens Birkenau verirren kann". Trotz des Anspruchs der Allgemeingültigkeit: Hier wird vor allem Szmaglewskas eigener Blick deutlich, der eben auch von Vorurteilen und einem gewissen Snobismus geprägt ist, und gleichzeitig von kompliziertem Zugehörigkeitsgefühl zu all jenen, die "den Geruch brennender menschlicher Knochen eingeatmet haben".
Unmittelbar nach der Flucht aufgeschrieben
Dieses Bild taucht auch im ursprünglichen Titel "Der Rauch über Birkenau" auf, der auf Deutsch aber schon von einer (sehr guten) Anthologie von Liana Millu besetzt ist, wie die Übersetzerin Marta Kijowska in einem vorbildlichen Nachwort erklärt. Der Ersatztitel führt allerdings in die Irre: Zwar sind zwangsläufig die weiblichen Lagersektionen der Beobachtungsschwerpunkt, die spezifisch weibliche Lagererfahrung, wie sie jüngst Ginette Kolinka in "Rückkehr nach Birkenau" beschrieben hat, steht aber nicht im Zentrum. Der ewige Gefangene, den Szmaglewska am Ende beschwört, ist wenigstens dem Genus nach männlich.
Ihr Buch ist letztlich weder Memoir, Reportage noch Essay, und folgt trotzdem einem stringenten Aufbau; ihr Tonfall ist dabei häufig lakonisch verzweifelnd, mit gelegentlichen schmerzhaften Ausbrüchen. Gerade vor dem Hintergrund der Entstehung – nach vorsichtigen Notizen in Birkenau selbst nach drei Jahren schwerer Lagerhaft quasi noch am Tag der Flucht begonnen und im Sommer 1945 beendet – ist die stilistische Geschlossenheit und die sprachliche Ausdruckskraft des Buches ein Wunder.
Harte, teils verzerrte Urteile
Als Geschichtschreibung ist es natürlich zwangsläufig lücken- und fehlerhaft, es beginnt schon mit einer falschen Zahl aller Todesopfer von Auschwitz. Und doch sind es gerade diese blinden Stellen und ihre harten, auch verzerrenden Urteile, die das Buch so wertvoll machen: als Zeugnis nicht nur unmittelbarer Erfahrung, sondern auch unmittelbarer Erzählung. Der noch nicht verwehte Rauch über Birkenau vernebelt Szmaglewskas Blick – und auch diese Vernebelung ist Teil einer schrecklichen Wahrheit.