Sex ist tabu

Von Markus Rimmele |
Sexualaufklärung findet an Chinas Schulen und in den Familien entweder gar nicht oder nur gegen Widerstände statt. Das Thema Sex ist in der Gesellschaft nach wie vor ein großes Tabu.
Eltern und Lehrern ist es oft peinlich, mit Kindern und Schülern über Sex zu reden, sodass diese sich, wenn überhaupt, im Internet oder in anderen Medien informieren. Die Folge: Das Wissen um Verhütung ist bei jungen Chinesen oft gering. Das Ergebnis sind viele ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen.

Xin Yuan ist eine für China ungewöhnliche Frau. Die 38-Jährige sitzt bei einer Tasse Kaffee, redet dabei locker und entspannt über Sexualität und Aufklärung. Ähnlich tut sie dies, versichert sie, auch mit ihrem 11-jährigen Sohn. Damit unterscheidet sich die Shanghaierin von der großen Mehrzahl ihrer Landsleute.

"Chinesische Eltern schämen sich in der Regel, mit ihren Kindern über Sex zu reden. Sie können auch nicht offen über die körperliche Entwicklung ihrer Kinder sprechen."

Als ihr Sohn sechs war, erzählt Xin Yuan, zeigte er eines Tages auf einen Kondomautomat und fragte, was das sei. Sie wich aus, er bohrte immer weiter, die Situation wurde peinlich. Später zu Hause dachte sie nach und war unzufrieden über ihr Unvermögen, dem Jungen Antworten auf seine Fragen zu geben. Das war der Beginn.

Das Thema Aufklärung hat sie seither nicht mehr losgelassen. Heute gibt sie anderen Eltern Rat, wie sie mit ihren Kindern über Sexualität sprechen sollen. In der Schule ihres Sohnes gibt sie Sexualkundestunden. Xin Yuan füllt damit eine Lücke im chinesischen Bildungssystem:

"Selbst wenn es Lehrmaterial gibt, empfinden die Lehrer in den Schulen zu große Scham, um über das Thema zu sprechen. Obwohl die Regierung jetzt langsam etwas tut, können viele Lehrer wegen ihres eigenen Erziehungshintergrundes einfach nicht mit den Schülern darüber reden."

Sex, sagt die Sexualkundlerin Hu Ping, bewegt sich in der chinesischen Kultur traditionell im Bereich des Obszönen. Kinder und Jugendliche wachsen mit diesem Tabu auf und bleiben desinformiert.

"Ich habe eine Umfrage in einer Schule durchgeführt. Mehr als 50 Prozent des Sexualwissens der Kinder stammte aus dem Internet oder anderen Publikationen. Weniger als zehn Prozent kamen aus der Schule oder von den Eltern. Das ist nicht in Ordnung. Erwachsene sollten die Kinder doch beim Aufwachsen unterstützen."

Hu Ping wünscht sich mehr Aufklärungsunterricht in der Schule. Doch hier sind die Widerstände groß, zum einen auf Seiten der konservativen chinesischen Bildungspolitik. Zum anderen aber auch auf Seiten der Eltern. In einigen Pekinger Grundschulen war dieses Jahr - ein großer Fortschritt - ein Sexualkundebuch testweise ausgegeben worden. Eltern entrüsteten sich sofort.

Die graphischen Abbildungen von Geschlechtsorganen seien, so eine empörte Mutter wörtlich, "Pornographie für Kinder". Die sexuelle Unwissenheit ist selbst unter Chinas Studenten noch groß. Ein 18-jähriger Studienanfänger aus Shanghai:

"Ich habe nur auf dem Gymnasium im Biologie-Unterricht etwas Sexualkunde gehabt. Da haben sie uns was über die männlichen und weiblichen Sexualorgane beigebracht. Da war ich 14 oder 15. Das ist ein peinliches Thema. Normalerweise redet man ja nicht darüber. Ich würde zum Beispiel gern mal wissen, was bei Mädchen die Periode ist. Ich weiß das bis heute nicht."

Seine Freunde könne er schon mal zu sexuellen Dingen befragen, so der junge Mann, doch niemals seine Eltern. Die verbreitete Unwissenheit hat Folgen. Die Peking-Universität hat die Altersgruppe der 15-24jährigen untersucht.

Die Hälfte der Befragten gab an, beim ersten Sex nicht verhütet zu haben. Und von den sexuell aktiven Mädchen waren angeblich 20 Prozent bereits ungewollt schwanger gewesen. Die allermeisten haben abgetrieben. Auch Aids und Geschlechtskrankheiten sind auf dem Vormarsch in China.