Kirche gegen Kinderprostitution
Während der WM in Brasilien wird die Prostitution deutlich zunehmen. Kirchliche Organisationen wollen dem entgegenwirken. Ihnen geht es darum, Frauen und Mädchen neue Perspektiven abseits des Straßenstrichs und der Bordelle zu eröffnen.
Sie wohnen oben auf dem Hügel, unten im Dunst sehen sie die Hotels und Hochhäuser an der Küste von Fortaleza. Für einige von ihnen begann dort das Elend: Am Straßenrand sitzen und auf den nächsten Kunden warten. Das ist vorbei, zumindest für 24 Mädchen, die jetzt in einem Zentrum für Opfer sexueller und häuslicher Gewalt leben.
"Hier ist es anders als früher. Meine Mutter ist drogenabhängig, deswegen konnte ich nicht so viel machen, wie ich hier machen kann. Es ist schon das dritte Heim, in dem ich untergebracht bin."
Vitoria ist 15. Zu Hause bekam sie Schläge, musste selbst für ihr Essen sorgen. Ihre Mutter, eine Drogenhändlerin, saß mehrmals im Gefängnis. Irgendwann lebte Vitoria mehr auf der Straße als zu Hause. Bis sie im Heim landete.
"Das erste Heim war sehr schlecht, da gab's überhaupt keine Struktur. Das wurde dann auch geschlossen. Dann musste ich in das andere gehen. Aber das war auch nichts für mich. Ich war froh, als ich hierher gekommen bin."
Augustiner kümmern sich um Opfer sexueller Gewalt
Gegründet wurde das Zentrum für Opfer sexueller Gewalt im Jahr 2007 von den Augustinern. Die Ordensleute helfen den jungen Frauen, damit sie ihren Körper nicht länger verkaufen müssen. Die Stadt Fortaleza im Norden Brasiliens gilt als Hochburg des Sextourismus. Und obwohl Kinderprostitution in Brasilien strafrechtlich verfolgt wird, bieten sich auch viele Minderjährige an. Die Mädchen aus den Elendsvierteln sehen oft keine andere Perspektive.
"Das zentrale Problem liegt in den Familien und im Bereich Bildung, es ist ein Problem unserer Gesellschaft: Wir haben eine Unterschicht, Menschen, die in Armut aufgewachsen sind und kaum eine Chance haben, dort herauszukommen. Schlechte Arbeitsverhältnisse, mangelnde Schulbildung, Drogenkonsum – das alles ist der Nährboden für sexuellen Missbrauch."
Oft beginne das alles in der Familie, berichtet Augustinerpater José Alberto Moreno, der das Zentrum leitet. Erste Missbrauchs-Erfahrungen im Kindesalter, Verwahrlosung, dann der Weg auf den Straßenstrich – diese Spirale versuchen die Augustiner zu durchbrechen. Ihre Einrichtung, das sind mehrere kleine Häuser, dazwischen ist viel Grün: Wiesen, Blumenbeete und schattenspendende Bäume. Die Mädchen leben in Wohngruppen. Eine Psychologin, Sozialarbeiterinnen und Ordensschwestern kümmern sich – versuchen, das innere und äußere Chaos, aus dem die Kinder kommen, etwas zu ordnen: Jetzt gehen sie regelmäßig zur Schule, kriegen Nachhilfe, machen Sport und Musik.
"Wir sind nicht geboren, um traurig zu sein" – das ist es, was die Augustiner vermitteln wollen, sagt Pater Moreno: Selbstwertgefühl, Perspektiven für die Zukunft.
"Alle, die hier mitarbeiten, tun dies aus ihrem Glauben heraus. Für die Mädchen ist es wichtig, sie spüren zu lassen, dass Gott ein gutes Leben mit ihnen vorhat. So verstehen wir unsere Arbeit, wir legen ihr Schicksal in die Hände des Glaubens."
Vitoria schmiedet schon Pläne. Sie ist gut in Mathematik, kann sich vorstellen, später mal als Buchhalterin zu arbeiten.
"Wenn's irgendwie geht, will ich hier wohnen bis ich 18 bin. Dann möchte ich unbedingt arbeiten, mir ein Haus kaufen und eine eigene Familie haben."
Während der WM steigende Zahl der Prostituierten
Von so etwas zu träumen, darauf kämen viele junge Frauen nicht einmal, sagt Pater Moreno. An der Uferpromenade und am Strand von Fortaleza sitzen sie, eine neben der anderen – warten darauf, von Touristen angesprochen zu werden.
"Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wird sich durch die WM verschärfen. Wir wissen, dass es Geschäftemacher gibt, die versuchen, den Touristen solche Dienste anzubieten. Für viele Mädchen ist es eine Gelegenheit, etwas Geld zu verdienen. Die Touristen werden nur kurze Zeit hier sein, wollen ihren Spaß haben, und das wird ihnen dann eben angeboten. Wenn die Behörden das nicht massiv kontrollieren und unterbinden, wird die WM für viele Mädchen eine Katastrophe."
Bei den vergangenen Weltmeisterschaften in Südafrika und Deutschland sei die Zahl der Prostituierten deutlich gestiegen, berichten Fachleute, auch wenn es keine verlässlichen Zahlen gibt. Trotzdem: Die katholische Koordinierungsstelle für Frauen in Prostitution mit Sitz in Sao Paulo ist alarmiert, sagt deren Sprecherin Sueli Aparecida da Silva:
"In Städten wie Fortaleza und Salvador ist es schon sehr auffällig. Gerade in der Nähe von Busbahnhöfen und Flughäfen, wo die Fans ankommen, schießen neue Bars und Hotels aus dem Boden. Da hängt zwar keiner ein Schild auf: Hier ist ein Bordell. Aber wer es sehen will, der sieht es."
Die Prostitution werde totgeschwiegen. Politiker und auch die Gesellschaft würden nicht gern darüber reden, meint die Aktivistin. Dieses Tabu versucht die Fachstelle aufzubrechen, die im Auftrag der der brasilianischen Bischofskonferenz arbeitet. Und sie setzt sich ein für bessere Lebensbedingungen gerade der armen, dunkelhäutigen Frauen aus dem Nordosten des Landes. Viele von ihnen sind Analphabeten, so schlecht ausgebildet, dass sie nicht einmal als Hausangestellte reicher Familien arbeiten können. Wer keinen anderen Job findet, landet schnell auf dem Straßenstrich.
"An erster Stelle versuchen wir, das Selbstvertrauen der Frauen zu stärken. Wir zeigen ihnen, wo sie sich fortbilden können, zum Beispiel lesen und schreiben lernen. Wir wollen sie ermutigen, trotz der äußerst schwierigen Rahmenbedingungen."
In Rio liegen Elend und Vergnügen dicht beisammen
Elend und Vergnügen – diese Pole liegen in Brasilien nahe beieinander. Auch in Rio de Janeiro, wo in gut fünf Wochen das WM-Finale stattfindet. Nicht einmal 40 Kilometer vom modernen Maracana-Stadion entfernt ist Nova Iguacu. Eine Vorstadt von Rio, in der die wohnen, die sich den Lebensstandard am Zuckerhut nicht leisten können. Und auch hier landen Kinder in der Prostitution – verwahrlosen in den Slums.
"Ja, wie zum Beispiel dann die eine, die vor einem halben Jahr gekommen ist: Die hat drei Jahre auf der Straße gelebt. Wir haben nichts anderes machen können als ihr sofort die Haare zu schneiden, weil sie Löcher im Kopf hatte von Maden – und Läusen."
Johannes Niggemeier, Religionspädagoge aus Paderborn, hat hier zusammen mit zwei Brasilianern – einer Psychologin und einem Pfarrer – die Organisation AVICRES gegründet. Die portugiesische Abkürzung steht für den Satz: "Gemeinschaft für das Leben, damit es wachse in Solidarität". AVICRES hat ein Wohnheim für Mädchen von der Straße, außerdem Kindertagesstätten und eine Gesundheitsstation. Sie tun das, was der Staat vernachlässige, sagt Niggemeier:
"Wir legen durch unsere Existenz die Finger in die Wunden, damit das auch gesehen wird. Diese schreckliche Armut, die herrscht, obwohl die Politik sagt: Brasilien ist ein reiches Land ohne Armut."
Er arbeitet seit knapp 30 Jahren in Nova Iguacu, aber die Situation in den Favelas habe sich strukturell nicht verbessert, sagt der 75-Jährige. Als politischer Entwicklungshelfer hätte Niggemeier wohl längst resigniert. Doch er begann seine Arbeit motiviert durch den Befreiungstheologen Leonardo Boff – und sieht sich heute durch Papst Franziskus bestätigt.
"Wir sind hier ausdrücklich gegen die Todeskultur in dieser Baixada angetreten. Für das Leben. Und ich glaube, dass durch diesen neuen Papst die Theologie der Befreiung neuen Aufschwung kriegt. Die Praxis der Theologie der Befreiung ist nie untergegangen. Und ich nehme in Anspruch, dass wir ein Beispiel dafür sind, dass sie auch nicht untergeht."
Organisation mit eigener Bäckerei und Tischlerei
Theologie ganz praktisch: Der frühere Professor Johannes Niggemeier versucht in Nova Iguacu, ungerechte Strukturen zu bekämpfen. Inzwischen hat AVICRES rund 100 Angestellte. In eigenen Betrieben der Organisation – Landwirtschaft, Bäckerei und Tischlerei – werden Jugendliche ausgebildet. Nur so könnten sie der Gewalt in den Elendsvierteln entkommen.
"Unsere Kinder sind alle durch Gewalttätigkeit hier: Sexueller Missbrauch, geschlagen werden, gequält werden, entführt werden, gehandelt werden wie Postpakete. Die augenblickliche Kampagne der Kirche heißt: Gegen Menschenhandel. Prostitution ist auch Menschenhandel."
Mit seinem Engagement und öffentlichen Auftritten provoziert der Paderborner Religionspädagoge die Regierung. Denn die Politiker würden gern andere Bilder von Brasilien transportieren – gerade jetzt zur WM: Fußballparty statt bittere Armut, moderne Stadien statt heruntergekommene Straßenstrichs.
"Die Spiele sind auch Opium für das Volk. Das bedeutet schon etwas für das Volk, damit es überhaupt leben kann, damit es etwas hat, woran es sich halten kann. Wer nachdenkt spürt, dass es so nicht gehen kann."