Sex, Macht und Ressentiment

Von Wolfgang Sofsky |
Im Kampf um Ansehen und Macht ist der sexuelle Skandal besonders ruinös. Der gute Ruf einer Vertrauensperson, die bei ungehörigen Übergriffen ertappt wird, ist für immer dahin, meint Wolfgang Sofsky.
In letzter Zeit erregten mehrere Fälle von sexueller Unmoral die Gemüter. Eine Versicherungsgesellschaft belohnt ihre besten Männer mit einer Orgie, ein Bankpräsident wird wegen versuchter Vergewaltigung an den Pranger gestellt, ein ältlicher Regierungschef steht wegen wiederholter Ausschweifung mit erfahrenen Minderjährigen vor Gericht.

Die Unholde der Wollust sind allerorten, in Hotels und Internaten, in Palästen und Chefetagen. Ab und zu hört man auch von Ungeheuern in dunklen Kellern und grauen Ehebetten. Sie lösen indes weniger aggressive Empörung als unverständiges Kopfschütteln aus. Allenfalls taugen sie zu Sammelklagen über den Verfall der Sitten, aber nicht zur öffentlichen Verunglimpfung.

Im Kampf um Ansehen und Macht ist der sexuelle Skandal besonders ruinös. Der gute Ruf einer Vertrauensperson, die bei ungehörigen Übergriffen ertappt wird, ist für immer dahin. Auch wenn man ihr eine zweite Chance einräumt, den Geruch brünstiger Tollheit wird sie nie mehr ganz los. Obwohl nackte Tatsachen überall zu besichtigen sind und manche Neigungen legalisiert wurden, gelten Untaten der Wollust oft als unverzeihlich. Präsidenten dürfen einfach keine Affären mit Praktikantinnen haben, Minister und Gouverneure keine unehelichen Kinder, Manager keinen Spaß bei gut bezahlten Gelagen. Zwar reden nur noch blasse Greise, prüde Gouvernanten oder bigotte Fanatiker von Todsünden, aber viele korrekte Zeitgenossen halten die robusten Gelüste des Fleisches für höchst anrüchig. Wer von niederen Trieben beherrscht wird, dem, so glaubt man, könne man weder sein Geld noch sein Schicksal oder gar seine Seele anvertrauen. Nicht einmal den Wetterbericht kann man ihm noch glauben, geschweige denn sein Lebensrisiko bei ihm versichern. Der Kaiser ohne Kleider, er ist ein Untier.

Im Dunkelfeld der Begierden sind die Grenzen fließend, auch wenn Recht und Justiz eine strikte Linie zum Verbrechen, zu Missbrauch und Gewalt zu ziehen suchen. Manche derben, ja blutigen Lustspiele finden in gegenseitigem Einvernehmen statt, während manchmal schon ein harmloser Seitenblick als kriminelle Belästigung empfunden wird. Die Wollust selbst hält sich an keine Grenzen. Sie nimmt, was gerade kommt. Sie ist treulos, wahllos, gewissenlos. Ihre Befriedigung findet sie im Lift, im Taxi, im Beichtstuhl oder Lusthaus. Sie arbeitet mit Tricks, Täuschung und Verführung, manchmal auch mit Zwang und Gewalt. Unduldsam ist sie gegen jede Kontrolle und Kommunikation. Selbstverlust und Entgrenzung ist ihr Ziel, Lust um ihrer selbst willen. Diese Tendenz ins Schrankenlose hat sie mit der Gier nach Macht und Geld gemein.

Auf diese Parallele spekuliert der populäre Moralismus. Er gibt die Kritik des Sex als Kritik der Macht aus und ist doch selbst nur eine wohlfeile Waffe im Kampf um die ideologische Hegemonie. Er zielt nicht auf Brust oder Kopf, sondern unter die Gürtellinie. Nichts ist vernichtender als die Entlarvung sexueller Umtriebe. Nichts kann mehr Zustimmung und Schadenfreude erwarten als die Entrüstung über die niederen Instinkte der Höhergestellten. Besonders preiswert ist die Technik des Rufmords ohnehin. Sie benötigt keine Beweise, es genügen üble Nachrede, Klatsch und Verdacht. Im Recht weiß sich die Diskreditierung immer. Im Namen der Opfer gibt sie zu sprechen vor, im Namen der Gerechtigkeit, der Sittlichkeit, der Menschenwürde.

Dabei ist der Säbel der Moral nichts als eine politische Waffe. Nicht um die Wunden wirklicher Opfer geht es, sondern um die Bloßstellung und Brandmarkung wirklicher und vermeintlicher Täter, vor allem jedoch um das wohlige Gefühl, gegenüber Prominenten und Privilegierten selbst im Recht zu sein. Wer sonst keine Bataillone, kein Kapital, kein Mandat und keinen bürokratischen Apparat zur Verfügung hat, der behilft sich mit den Methoden der Unkultur: mit Empörung und Entrüstung, mit Schmähung und Ehrabschneidung. Auf der Schwundstufe des Streits um die Deutungshoheit bestimmen nicht Werte und Sitte die Debatte, sondern die Instinkte des Ressentiments, des Grolls der Prüderie und Unterlegenheit.

Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: 'Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager' (1993), 'Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition' (mit Rainer Paris, 1994) und 'Traktat über die Gewalt' (1996). 2002 erschien 'Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg', 2003 'Operation Freiheit. Der Krieg im Irak', 2007 der Band ‚Verteidigung des Privaten’ und 2009 ‚Das Buch der Laster’. Sofskys neues Buch ‚Todesarten. Über Bilder der Gewalt’ kommt im Oktober heraus.
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