Sexismus-Debatte im Kulturbetrieb

Der Osten kannte kein 1968

Jeanne Balibar in einer Inszenierung von Frank Castorf
Frauen gerne leicht bekleidet? Jeanne Balibar in einer Inszenierung von Frank Castorf © Markus Scholz/dpa
Von Tobi Müller |
Im "Merkur"-Blog schildert Autorin Darja Stocker schreiende, sexistische Dozenten während ihres Studiums des Szenischen Schreibens in Berlin. Ein Mitstudierende widerspricht. Was dem Streit zugrunde liegt, seien kulturelle Differenzen von Ost und West, kommentiert Tobi Müller.
Als die Theaterautorin Darja Stocker an der Berliner Universität der Künste zu studieren begann, stand sie unter Kulturschock. In diesem Sommer, elf Jahre nach Studienbeginn, hat sie davon berichtet, im Blog der Zeitschrift "Merkur": "Leute, die beleidigt werden. Diskussionen, die aus dem Ruder laufen. Brüllen. Fertigmachen". Die beiden Studienleiter hätten schon in den ersten Wochen geschrien. Und der jüngere der Brüller habe mit Studentinnen geknutscht. Hier eine Hand auf einem Bein, da eine andere. Stocker und andere haben sich beschwert bei der Universitätsleitung. Reaktion: Abwiegeln.
Seit diesem Sommer wird rhetorisch aufgerüstet. Das Theaterportal nachtkritik.de veröffentlichte zwei Reaktionen, um die Kritik Stockers zu kontern, die der gesamten Theaterlandschaft strukturellen Sexismus attestiert hatte. Zuerst erschien eine Entgegnung der Autorin Anne Rabe, die als Mitstudierende Stocker "aufs Schärfste" widerspricht. Und dann meldete sich Oliver Bukowski namentlich, der jüngere der von Stocker Angegriffenen.

Der Sexismus setzt sich fort

In den Gegenstimmen bleibt der Versuch spürbar, Darja Stocker zu hysterisieren, ihre Kritik als Wahnvorstellung darzustellen. Der Sexismus setzt sich fort. Auf der andern Seite unterstellt Stockers Text heikle, wenn auch nicht justiziable Dinge. Was erotische Handlungen in Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Dozent und Studentin angeht, sollte man sich nicht vor dem Rechner zum Richter aufschwingen.
Das Schreien und Brüllen und auch das ungenierte Schwitzklima des "Sei-doch-mal-nicht-so-kompliziert" ist eine andere Sache. Denn das verweist auf eine kulturelle Differenz, die in Deutschland seit der Wiedervereinigung zum Verdrängten gehört. Und das Verdrängte kehrt halt immer wieder.

Klischee des verweichlichten Westens und harten Ostens

Der Osten, die DDR, kannte kein 1968. Gleichzeitig hatte der antiautoritäre Teil der Studentenbewegung in Westdeutschland enormen Erfolg. Gerade in der Kindererziehung reichte der Arm von 68 bis in bildungsferne und nicht-linke Familien hinein. Es war in den Siebzigern plötzlich nicht mehr okay, ständig rumzuschreien zu Hause. An einem beliebigen See in Brandenburg werden Kinder noch heute rasch laut angegangen, während tätowierte Väter im Ruhrgebiet im Spaßbad zärtlicher mit der Brut umgehen. Stocker ist Schweizerin und damit dem verweichlichten Westen zuzurechnen, Bukowski und Rabe, die Stocker widersprechen, kommen beide aus dem harten Osten. Soweit die Klischees, die leider einen wahren Kern haben.
Frank Castorf, Gott des ungläubigen Ostens, hat während 25 Jahren nie aufgehört, seine Frauen in Unterwäsche und hohen Hacken über die Bühne zu jagen. Das war Teil der deutsch-deutschen Psychohygiene. Die Volksbühne war stolz auf ihre politische Unkorrektheit, sie war alles, was der Westen nicht mehr sein durfte. Hätte sich kein Wessi getraut, Christoph Marthaler und Schlingensief zeigten an derselben Volksbühne ein völlig anderes Frauenbild – der Schweizer Marthaler stand in der 68er-Tradition, der Westler Schlingensief in jener von Joseph Beuys, dem antiautoritären Star der alten Bundesrepublik.

Vom Sams und den Ideen der 68er-Generation

Und Darja Stocker, 1983 geboren, ist die nicht zu jung für Echos von 68? In einem Interview sagt sie: "Mir schwebt eine Universität vor, die die Studenten ermutigt, ihren eigenen Ideen zu vertrauen und sie umzusetzen. Eine Universität, an der Konflikte, die in der Gesellschaft stattfinden, aus verschiedenen Perspektiven diskutiert werden." Das ist reinstes 68. Könnte aus einem berühmten Kinderbuch von 1973 stammen, "Eine Woche voller Samstage" von Paul Maar.
Im Mittelpunkt steht das Sams, ein "furchtloses, ja beinahe respektloses Wesen". Einmal geht das Sams in die Schule, doch in der Klasse von Herrn Groll wird nur geschrien. Herr Groll sagt: "Du kannst von Glück reden, dass man die Schüler nicht mehr verhauen darf." "In dieser Klasse ist es mir zu laut", sagt das Sams und sucht sich eine neue. Dort unterrichten die Schüler selbst, der Lehrer sitzt in der Bank. Thema: Im Kollektiv Gedichte schreiben. Kann es Zufall sein, dass Darja Stocker das erste Stipendium von der Paul-Maar-Stiftung erhielt, dem Erfinder des Sams?
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