Wenn es keinen "Beschützerinstinkt" gibt
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Der Missbrauchskomplex Münster lenkt den Blick auf ein selten thematisiertes Phänomen: Frauen als Täterinnen sexualisierter Gewalt. Die Psychologin Safiye Tozdan sagt, in den meisten Fällen seien dies Vertrauenspersonen aus dem Umfeld des Kindes.
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist die Anklage gegen die Mutter eines Opfers im Missbrauchskomplex Münster verlesen worden. Vor Gericht steht eine 31-jährige Frau, die ihren Sohn dem Lebensgefährten zum sexuellen Missbrauch überlassen und den Mann sogar zu sexuellen Handlungen animiert haben soll.
"Mit Sicherheit kann es in solchen Konstellationen verschiedene Gründe geben, warum so etwas passiert und warum sich eine Mutter so verhält", sagt Safiye Tozdan, Psychologin am Institut für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Pädophilie und Sexueller Kindesmissbrauch. "In vielen Fällen ist es so, dass die Frau in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Partner steht. Das heißt, die Frau ist in irgendeiner Form von ihrem Partner abhängig, sei es emotional oder finanziell oder beides, und duldet den Missbrauch des Kindes, damit der Partner sie nicht verlässt."
Es könne aber auch sein, dass es ein eigenes Interesse der Frau gibt, dass dieser Missbrauch geschieht. Wobei ja schon allein die "Überlassung" des Kindes zum Missbrauch ein Akt der Gewalt sei. Es könne aber auch sein, dass sie sich sorge, selbst Opfer der Gewalt wird, wenn sie den Missbrauch des Kindes unterbinde.
Safiye Tozdan widerspricht dem gesellschaftlichen Idealbild von einer Mutter, das vielfach besteht und propagiert wird: Vielleicht liege der viel zitierte "Beschützerinstinkt" gar nicht in jedem Fall vor. Es sei wichtig, von dem Klischee einer immer bestehenden besonderen Bindung zwischen Müttern und ihren Kindern wegzukommen. Wir als Gesellschaft müssten begreifen und anerkennen, dass Frauen nicht nur Opfer von sexualisierter Gewalt, sondern auch selbst Täterinnen sein können.
Laut Polizeistatistiken seien zwar nur bei etwa einem Prozent aller Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch die Täter Frauen. Doch würde man mit Betroffenen in so genannten "Dunkelfeldbefragungen" sprechen, "dann finden Sie Zahlen von bis zu 20 Prozent. Und die Zahlen sind auch teilweise noch mal höher, wenn Sie sich nur männliche Betroffene angucken. Das heißt, Jungen sind öfter betroffen von Missbrauch durch Frauen als Mädchen."
Unter dem Deckmantel der Fürsorge
"Den" klassischen Fall gebe es ebenso wenig wie bei männlichen Tätern, sagt Safiye Tozdan. In den allermeisten Fällen komme die Frau aus dem nahen sozialen Umfeld des Kindes und sei eine Vertrauensperson, die dem Kind sehr nahesteht: "Das sind dann eben Mütter, Tanten, Großmütter, Babysitter, Erzieherinnen. Und wenn eine Mutter übergriffig wird, findet man häufig die Situation, dass sie ein männliches Kind, also ihren Sohn missbraucht und ihn als eine Art Partner-Ersatz sieht und die sexuellen Handlungen unter dem Deckmantel der Liebe und Fürsorge initiiert."
Safiye Tozdan fordert, dass die Gesellschaft insgesamt, aber auch die Justiz und das Gesundheitswesen anfangen sollten, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dass Missbrauch durch Frauen häufig nicht erkannt werde, liegt nach ihrer Meinung daran, dass "die Menschen häufig nicht denken, dass es so etwas gibt, auch wenn es direkt vor ihrer Nase geschieht".
(cre)