Nicola Schubert ist Schauspielerin, Theatermacherin und freie Autorin. Sie begann bei den „Ruhr Nachrichten“ und Radio 91,2 in Dortmund und mit einem Theater- und Medienwissenschaftsstudium. Nach dem Schauspieldiplom in Frankfurt am Main war sie in Detmold und am Theater Ulm engagiert. Nun lebt sie in Köln und arbeitet hauptsächlich mit ihrem Performance-Kollektiv schubert-stegemann.
Sexualisierte Gewalt
Das Oktoberfest ist exemplarisch für eine Kultur, in der sexualisierte Gewalt tendenziell verharmlost wird, findet Nicola Schubert. © Imago / Future Image / Brigitte Saar
Oktoberfest ist überall
55 angezeigte Sexualdelikte beim Oktoberfest, darunter die Vergewaltigung einer Frau auf einer Bierzelttoilette. Das ist ein Beleg dafür, dass nach wie vor eine sogenannte "Rape Culture" herrscht, kritisiert die Theatermacherin Nicola Schubert.
Die Rape Culture ist wahrscheinlich so alt wie das Patriarchat selbst: Spätestens seit der Antike zeugen schriftliche Überlieferungen von ihr. Wesentlich dabei ist, wie sie von sexualisierter Gewalt erzählen und welche Gründe für die Taten angegeben werden, die hier euphemistisch Liebesspiele oder Verführungen genannt werden.
Der Gott Zeus sei eben von der Schönheit dieser oder jener Frau gereizt worden, heißt es dann zum Beispiel. Kommt Ihnen das bekannt vor? Sie hat sich eben zu sexy gekleidet und ihn damit provoziert – ein klassisches Symptom der Rape Culture.
Alkohol als mildernder Umstand
Der nächste Punkt: Die Vergewaltigungen geschehen fast immer außerhalb des „oikos“, also des schützenden, familiären Heims. Der öffentliche Raum, die wilde Natur, Feste und Brunnen: All das sind in der antiken Literatur Orte, die selbstverständlich gefährlich sind für Frauen, die allein unterwegs sind, vor allem ohne männliche Begleitung.
Vom vergewaltigenden Herakles wird als mildernder Umstand geschrieben, er sei halt oft unter Alkoholeinfluss gewesen. Kommt Ihnen das bekannt vor?
Beim Oktoberfest wurden in diesem Jahr 55 Sexualdelikte zur Anzeige gebracht, wie die Münchner Abendzeitung meldet. Das geht ja noch, denken Sie? Willkommen in der Rape Culture.
Der Begriff beschreibt, wie sexualisierte Gewalt als irgendwie "normal" und "nicht zu verhindern" verharmlost wird und welche Spuren sie in Alltag und Sprache hinterlassen hat. Bedauerlich so was, natürlich, aber was will man machen? Boys will be boys.
Vergewaltigung – eine Naturgewalt?
Rape Culture steht für das dumpfe Gefühl, Vergewaltigung sei so etwas wie eine Naturgewalt. Eine äußere Katastrophe, die genauso wenig vermeidbar sei wie ein Wirbelsturm. Auf Wirbelstürme kann man beziehungsweise frau sich zumindest ein wenig vorbereiten. Beim Oktoberfest scheint das schwieriger zu sein – obwohl es mit der Initiative „Sichere Wiesn“ ein Präventionsprojekt gibt, das Opfern Beratung und Hilfe anbietet.
Doch was für Ratschläge waren das? Immerhin traute sich „Sichere Wiesn“ nicht Frauen vorzuschlagen, sich nicht zu sexy zu kleiden. Ansonsten aber jede Menge Täter-Opfer-Umkehr: Das Bier auf dem Oktoberfest sei stark, daher empfehle es sich, hin und wieder eine Limo oder eine Brezel zu sich zu nehmen, um – Zitat – „fit“ zu bleiben. Sprich: um sich besser gegen physische oder verbale Belästigung, die Naturkatastrophe, wehren zu können.
Ein weiterer Vorschlag: sich bereits vor dem Besuch einen sicheren Heimweg überlegen. Denn Heimwege sind ja bekanntlich an sich schon riskant. Diese Tipps schieben die Verantwortung in Richtung potenzieller Opfer. Gleichzeitig wird kräftig betont, dass immer die Täter und Täterinnen die Verantwortung und Schuld trügen.
So richtig passt das nicht zusammen. Denn wie diese gar nicht erst zu Gewalttätigen werden – eine sehr sinnvolle Präventionsmaßnahme –, dafür gibt es keine Idee. Dieser Umgang mit sexualisierter Gewalt ist nicht nur auf dem Oktoberfest ein Problem, sondern ganz grundsätzlich.
Öffentliche Räume müssen sicher werden
So wichtig und unerlässlich Hilfsangebote für die Opfer sind, so wichtig und unerlässlich wären sehr viel mehr Programme und Ideen dazu, wie Prävention an der richtigen Stelle aussehen kann: bei denen, die Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt verüben. Nicht potenzielle Opfer sollten Vorsorge treffen müssen.
Öffentliche und auch private Räume müssen endlich sicher für alle werden: für Frauen, für queere Menschen, für schwarze Menschen, für People of color, die Gruppen, die am meisten betroffen sind, und auch für Männer.
55 Sexualdelikte auf dem Oktoberfest sind 55 zu viel. „Sichere Wiesn“ beschreibt ihre Anlaufstelle als „safe space“. Wie wäre es, wenn im nächsten Jahr das ganze Areal ein „safe space“ würde? Utopisch, ein hehrer Wunsch, eine unrealistische Forderung, denken Sie? Willkommen in der Rape Culture.