Die Namen aller handelnden Personen wurden aus Rücksicht auf ihre Sicherheit geändert.
Lust und Frust in der Islamischen Republik
19:50 Minuten
Der Weg von Paaren in Iran ist gepflastert mit Verboten: Sie dürfen vor der Ehe weder zusammen spazieren gehen noch zusammenleben. Fremdgehen in der Ehe geht auch nicht - theoretisch. Denn die Islamische Republik ist ein Land der Doppelmoral.
Im Wohnzimmer des Wochenendhauses, das der 36-jährigen Parvoneh gehört, eine Autostunde von Teheran entfernt, ist es sehr heiß, obwohl wir erst April haben. Ich sitze mit ihr und ihrer Großmutter Safo um den üppig bestückten Frühstücktisch: Darauf frisches Brot und Schafskäse aus Eigenproduktion, den der Nachbar jeden Tag vorbeibringt. Die jungen Teheraner legen neuerdings auch Wert auf Bio.
Parvoneh ist eigentlich Englischlehrerin, doch seit Setojesch, ihre fünfjährige Tochter auf der Welt ist, bleibt sie mit dem Kind zu Hause. Ihre Familie gehört zur oberen Teheraner Mittelschicht, deswegen kann sie sich diesen Luxus leisten.
Wenn es Mama schon vor der Pubertät der Tochter graut
Eigentlich wollte ich mit Parvoneh und ihrer 80-jährigen Großmutter über die Kopftuchpflicht in Iran sprechen. Doch Parvoneh, eine modebewusste, in den besten Teheraner Boutiquen eingekleidete Frau, winkt nur genervt ab. Das Kopftuch ist für sie definitiv nicht das größte Problem.
Seitdem Setojesch auf der Welt ist, kreisen Parvonehs Gedanken um das Wohlergehen ihres Kindes. Es werden Psychologen konsultiert, Mal- und Musikstunden gebucht und Designerkleider für das ungewöhnlich hübsche Mädchen gekauft.
Und obwohl Setojesch noch in die Kita geht, denkt Parvoneh schon jetzt mit Grauen an ihre Pubertät im Iran.
"Wenn die jungen Menschen sich bei euch, in Europa treffen und amüsieren wollen, fassen sie sich an den Händen und gehen am See spazieren", sagt sie. "Sie verbringen eine nette Stunde zusammen und keiner mischt sich ein. Sie sind in Sicherheit."
"Sie nehmen die Mädchen mit nach Hause"
Weißt du wie es sich im Iran abspielt? Ein Mädchen und ein Junge dürfen nicht eine Sekunde zusammen draußen verbringen. Die Teenietochter meiner Freundin erzählte: Zwei Jungs wollten mich treffen, aber sie wollten gleich, dass ich zu ihnen nach Hause gehe."
"Sie wollten das Mädchen mit nach Hause nehmen? Aber das dürfen sie doch nicht", sagt Parvonehs Großmutter.
"Aber Omi – sie nehmen die Mädchen mit nach Hause – das ist das ganze Unglück! Also ein Mädchen von 16, 17 Jahren, anstatt mit dem Freund im Park Händchen zu halten oder ins Kino zu gehen, und etwas Romantisches zu erleben, geht zu dem Jungen nach Hause, weil er sagt – wenn wir uns draußen treffen – wird uns die Polizei festnehmen", erklärt Parvoneh.
"Die benimmt sich wie eine Jungfrau"
Safo: "Wenn sie nach Hause gehen, sind Mutter und Vater da?"
Parvoneh: "Nein doch, keiner ist da."
Parvoneh: "Nein doch, keiner ist da."
Safo: "Wenn die Jungs die Mädchen mit nach Hause nehmen, dann…"
Parvoneh: "Na klar Omi, was denkst du? Denkst du, das ist gegen die Natur?"
Parvoneh: "Na klar Omi, was denkst du? Denkst du, das ist gegen die Natur?"
Safo: "Das ist sehr schlimm."
Parvoneh:"Wie Stroh und Feuer! Und ich habe Teenager witzeln gehört, wenn ich dir das erzähle, wirst du dich wundern. Sie haben gelacht und gesagt: ‚Die benimmt sich wie eine Jungfrau‘. Sie haben das Mädchen ausgelacht. Siehst du jetzt, wie alles sich geändert hat?"
Parvoneh:"Wie Stroh und Feuer! Und ich habe Teenager witzeln gehört, wenn ich dir das erzähle, wirst du dich wundern. Sie haben gelacht und gesagt: ‚Die benimmt sich wie eine Jungfrau‘. Sie haben das Mädchen ausgelacht. Siehst du jetzt, wie alles sich geändert hat?"
Hier singt Googoosh, der iranische Superstar, ihren Hit "I believe in Love", einer der bekanntesten iranischen Songs über die Liebe - bezeichnenderweise auf Englisch. Googoosh wird trotz ihrer Emigration nach Kalifornien in Iran auch heute noch zutiefst verehrt.
Bei Verstößen drohen Gefängnis und Peitschenhiebe
Die Beziehungen zwischen Mann und Frau sind in der Islamischen Republik streng geregelt. Unverheiratete Paare dürfen nicht ohne Begleitung in einem Auto reisen, sie dürfen nicht gemeinsam eine Straße entlanggehen und auch nicht in einem Hotelzimmer übernachten. Beim Einchecken wird der Ausweis des Mannes, auf dem auch der Name seiner Ehefrau steht, genau kontrolliert.
"Mein Mann sagte zu mir – wenn wir zusammen ausgehen und ich es dir zeigen würde – würde es dir schlecht davon werden. Du hast keine Ahnung wie viele Frauen in Begleitung ihrer Männer, einfach auf der Straße mir ihre Telefonnummer heimlich zustecken und zwar: Obwohl ich mit Frau und Kind unterwegs bin."
Die Lockerung der iranischen Sitten beobachtet auch Rosa, die 27-jährige Psychologin aus Teheran, die ich in ihrem kleinen Assistentenzimmer an der Universität in Teheran treffe.
Die Menschen gehen heute viel öfter fremd
Auf den ersten Blick wirkt Rosa sehr mädchenhaft in ihrem engen Mäntelchen und immer wieder nach hinten rutschenden Kopftuch, doch sobald ich die erste Frage stelle, reagiert die junge Frau sehr professionell. Vor allem Frauen nähmen sich, trotz der restriktiven Gesellschaft des Iran ihre sexuellen Freiheiten heraus, sagt sie ganz sachlich.
"Die Menschen gehen viel öfter fremd", erzählt Rosa. "Früher war Verrat in der Ehe gesellschaftlich sehr verpönt. Jetzt ist die Stimmung besser, was das angeht. Noch vor 15 Jahren sind Männer öfter fremdgegangen, als Frauen. Heutzutage ist es genau umgekehrt. Auch wenn schon ein Kind da ist. Oft passen die Eheleute sexuell nicht zusammen, hormonell sozusagen. Es gibt Frauen, die sich mit der Situation arrangieren, aber viele haben in diesem Fall kein Problem damit fremdzugehen."
Wie soll man sich ausprobieren?
Autorin: "Sind diese Probleme damit verbunden, dass die Paare vor der Eheschließung nicht zusammenleben dürfen?"
Rosa: "Ja. Obwohl es schon viel besser geworden ist. Die Eltern denken progressiver. Damit die zukünftigen Eheleute sich ausprobieren können, verreisen sie einfach und überlassen ihnen das Haus. Aber bei vielen Familien geht das überhaupt nicht. In meinem Freundeskreis durfte nur ein einziges Paar vor der Heirat zusammenleben."
Rosa: "Ja. Obwohl es schon viel besser geworden ist. Die Eltern denken progressiver. Damit die zukünftigen Eheleute sich ausprobieren können, verreisen sie einfach und überlassen ihnen das Haus. Aber bei vielen Familien geht das überhaupt nicht. In meinem Freundeskreis durfte nur ein einziges Paar vor der Heirat zusammenleben."
Autorin: "Wegen des Glaubens?"
Rosa: "Ich denke, es hat nicht so viel mit der Religion zu tun, sondern mit unserer finanziellen Abhängigkeit."
Rosa: "Ich denke, es hat nicht so viel mit der Religion zu tun, sondern mit unserer finanziellen Abhängigkeit."
Männer, die das Gefühl haben, mit ihren Partnerinnen nicht zusammenzupassen, haben immerhin die Möglichkeit, ihre Sexualität mit einer Prostituierten auszuleben. Illegal natürlich. Dieses Problem hat der iranische Regisseur Asghar Farhadi in seinem mehrmals international ausgezeichneten Film "Frushande - The Salesman" öffentlich gemacht.
Irrtümlich für einen Freier gehalten
Behnam, ein 50-jähriger Ingenieur aus Teheran, wurde selbst für einen Freier auf der Suche nach sexuellen Abenteuern gehalten. Ich treffe ihn in der Kantine des Bauunternehmens für das er arbeitet. Doch als der schmächtige Mann mit dem offenen Gesicht hört, wie heikel das Thema ist, bevorzugt er als Interviewort, doch sein Büro. Wir sitzen in einem vor der prallen Sonne abgedunkelten Zimmer.
Die Bürostühle sind immer noch in eine Schutzfolie verpackt, obwohl die Möbel offensichtlich schon vor ein paar Jahren angeschafft wurden – die Folie hängt an einigen Stellen in Fetzen herab. "Eine persische Eigentümlichkeit - damit die Möbel länger halten", erklärt Behnam. Über seinem Schreibtisch hängen Porträts der religiösen Führer. Khomeini und Chamenei, die über unser Gesprächsthema sicher "not amused" wären.
"In Teheran kenne ich eine Adresse", erzählt Behnam. "Wenn man da anhält, oder nur abbremst, kommen die Damen schon um den Preis zu nennen. Sie machen einen Preisvorschlag. Sie laufen hin und her. Ich habe es damals rausgekriegt, als ich einmal in Arbeitsangelegenheiten in der Gegend ein Büro aufsuchte. Das Treffen lief nicht gut und ich war wirklich richtig traurig. Als ich rauskam und in mein Auto stieg, habe ich über meinen Misserfolg und über mein Leben nachgedacht.
Plötzlich stieg eine Frau in meinen Wagen und meinte: 'Lass uns fahren!' Ich habe mich umgedreht und fragte: 'Und wohin?' Sie hat mich angeschaut, stieg aus und sagte: 'Entschuldigt mich, du Scheißkerl!' Ich war wie vor den Kopf gestoßen, das habe ich noch nicht erlebt. Ich dachte, sie hätte sich einfach verirrt. Sie stehen da in Scharen. Als ich wieder in der Gegend war, habe ich es erst verstanden: Sie stehen da, nennen die Preise, handeln, und dann haben sie Sex. Es gibt auch Damen die bereit sind, in den Norden Irans zu verreisen, oder auch ins Ausland. Sie bekommen das Geld und bedienen die Männer."
Iranische Frauen, die sexuelle Dienste anbieten
In der Zeit von Schah Mohammad Reza Pahlavi gab es im ganzen Iran Freudenhäuser. Nach der Revolution von 1979 wurden diese Etablissements zerstört, die meisten Frauen umgebracht. Prostitution passte nicht in das Bild der Islamischen Republik. Seitdem ist der älteste Beruf der Welt im Iran strengstens verboten und doch – selbst in Gom, der Stadt der Mullahs, wo sich die bedeutendste Theologische Universität Irans befindet, gibt es Frauen, die sexuelle Dienste anbieten.
Autorin: "Wie kleiden sich die Frauen dort? Sie ziehen doch keinen Tschador an?"
Behnam: "In Gom und Mashad zum Beispiel, also in den Pilgerstädten, tragen die Prostituierten Tschador, das habe ich gehört. Diejenigen, die ich in Teheran gesehen habe, tragen ein Mäntelchen und Kopftuch."
Behnam: "In Gom und Mashad zum Beispiel, also in den Pilgerstädten, tragen die Prostituierten Tschador, das habe ich gehört. Diejenigen, die ich in Teheran gesehen habe, tragen ein Mäntelchen und Kopftuch."
Während Prostitution noch einigermaßen toleriert wird, werden auf der anderen Seite Homosexuelle strafrechtlich verfolgt. Der ehemalige iranische Präsident Irans Ahmedinejad behauptete sogar, in seinem Land gebe es keine Homosexuellen.
"Heutzutage - im Zeitalter der sozialen Medien - können diese Menschen kommunizieren und sich öffentlich zeigen, als das was sie sind", erklärt Behnam. "Doch man sagt zu ihnen immer noch, dass sie krank sind und zum Psychiater gehen sollen. Damit haben sie in Iran immer noch ein großes Problem, denn sie besitzen keine Rechte. Sie können sich nicht aneinander binden.
Wenn ein Mann mit einem anderen Mann sexuelle Kontakte pflegt, muss diese Neigung – nach herkömmlicher Meinung - eliminiert werden. Aus Sicht des Islam und vor dem Gesetz in Iran haben Homosexuelle kein Recht, eine Beziehung zu haben. Wenn herauskommt, dass zwei Männer oder zwei Frauen zusammenleben, droht ihnen die Todesstrafe – sie werden umgebracht."
Ajatollah Khomeini hat die Transsexualität selbst legitimiert
In Iran drohen Homosexuellen 100 Peitschenhiebe, wenn sie sich outen. Die Todesstrafe kann verhängt werden, wenn ein homosexuelles Paar in flagranti erwischt wird. Transsexualität und geschlechtsangleichende Operationen sind hingegen erlaubt und finden gesellschaftliche Akzeptanz. Die Transsexualität wurde von Ajatollah Khomeini selbst legitimiert - und zwar schon im Jahr 1987.
Maryam Khatoon Molkara, die als Mann geboren wurde, hatte sich schon immer wie in einem fremden Körper gefühlt. Sie war aber auch ein sehr religiöser Mensch und es war für sie vor allem eine Gewissensfrage, die Erlaubnis für eine geschlechtsangleichende Operation von dem religiösen Führer Irans persönlich zu bekommen.
Damals, noch in ihrer männlichen Gestalt, ging Maryam zur Residenz des Ajatollahs und es gelang ihr tatsächlich, Khomeini zu überzeugen, dass sie schon immer als Frau empfunden hatte. Sie erhielt die religiöse Erlaubnis zur Geschlechtsumwandlung.
"Eine heilbare Krankheit"
Seitdem wird Transsexualität in Iran als eine "heilbare Krankheit" behandelt. Der bekannteste iranische Transsexuelle ist wohl Saman Arastou, ein iranischer Schauspieler und Regisseur, der als Frau geboren wurde. Transsexuelle Schauspieler bekommen auch viele Rollen in beliebten iranischen Filmproduktionen.
Der gebildete und liberale Ingenieur Behnam kommt beim Thema Transsexualität an seine Grenzen. Was sagt das iranische Fernsehpublikum zu den Transsexuellen und ihrer Rolle im Filmbusiness?
"Unsere Gesellschaft versteht doch, dass dieser Mensch ein Problem hat", sagt er. "Und 99,9 Prozent der Leute haben kein Problem mit ihm. Ich kenne selbst jemanden, der ein Mann war, jetzt ist er eine Frau. Seine Familie hat mir erzählt, dass sie einen eigenen Weg gefunden hat. Und jetzt lebt sie ihr Leben."
Und dann ergänzt er etwas verlegen: "Sie ist doch ein Lebewesen."
Mit dem Kopftuch wird die Hälfte der Gesellschaft entrechtet
Wie es die iranische Gastfreundschaft vorschreibt, werde ich zu Behnam nach Hause eingeladen, die Familie kommt zusammen. Die meisten Iraner seien entweder Dichter oder Sänger: Ein Essen in einem persischen Haus ist immer auch eine kulturelle Veranstaltung.
An diesem Abend ist es Behnams Cousin Massoud, der ein altpersisches Lied über Sehnsucht, und natürlich auch über Liebe, singt.
Es ist reichlich aufgeladen: auf dem Tisch der typisch persische Reis mit Tadik, einer in Öl gebratenen Reiskruste, Ghorme Sabsi, Lammeintopf mit Kräuter und Most-o-Eswenotsch – Joghurt mit gebratenem Spinat. Behnams Familie lebt in einem dreistöckigen Haus im Osten Teherans. Und jetzt kommen wir doch noch auf die Kopftuchpflicht zu sprechen.
"Die Kopftuchpflicht galt zunächst nur in Behörden, direkt nach der Revolution", erzählt Behnam. "Erst danach führte man sie überall ein. Ich erinnere mich, dass Khomeini von einer Journalistin im Fernsehen gefragt wurde, ob sie verpflichtet sei, ein Kopftuch zu tragen. Er meinte dazu: Es ist kein Muss. Als sie dann das Kopftuch abgelegt hat, hat er das Studio verlassen. Sie haben einfach die Hälfte der iranischen Gesellschaft entrechtet."
Früher waren die Frauen die Herrscherinnen
Massoud, von Beruf Geschichtslehrer, pflichtet ihm eifrig bei.
"In der Vergangenheit waren die Frauen die Herrscher in Iran", sagt er. "Die Männer haben ihnen das angetan, um ihnen die Macht zu entreißen, weil sie mehr Fähigkeiten und Talente haben. Der Mann hat nur eine physische Kraft und keine Emotionalität, Intuition und so weiter. Der Mann ist in vielerlei Hinsicht schwächer als die Frau. Aber eines Tages wird das Kopftuch hier wieder verschwinden."
Und plötzlich mischt sich auch Farah, Behnams Frau, die bis jetzt nur zugehört und still die Gäste bedient hat, in das bislang ausschließlich von den Männern dominierte Gespräch ein. Und obwohl sie sich erst gegen deren laute Stimmen durchsetzen muss, spricht Farah mit ihrer frechen Prognose sicher vielen Iranern und vor allem Iranerinnen aus dem Herzen.
"Es passiert schon jetzt. Schon nächstes Jahr. Nackt werden wir herumlaufen", sagt sie mit einem Augenzwinkern in die Männerrunde. Und wirkt dabei so, als wüsste sie genau, wovon sie spricht.