Islam und Erotik

Sehnsucht nach einem offenen Diskurs

08:19 Minuten
Schaufensterpuppen in einem Lingerie-Geschäft nahe des Tahir-Platzes in Kairo/Ägypten.
Auch in islamisch geprägten Gesellschaften spielen Erotik und Sexualität zunehmend eine Rolle im Diskurs. © imago / Joerg Boethling
Von Nabila Abdel Aziz |
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Über Jahrhunderte waren muslimisch geprägte Gesellschaften freizügig im Umgang mit Sex und Erotik - bis Kolonialmächte intervenierten. Heute versuchen viele Muslime vor allem in sozialen Medien, an die frühere Offenheit anzuknüpfen, und brechen Tabus.
Marta ist 27 Jahre alt, Sozialarbeiterin, Muslimin und trägt Hijab. Alle paar Wochen fährt sie in Schulen in ganz Deutschland, um mit jungen Menschen über ihren Körper, Gefühle, Liebe und Sex zu sprechen. An einem Penismodell führt sie ihren Schülerinnen und Schülern zum Beispiel vor, wie man ein Kondom richtig überzieht, und vermittelt Aufklärung zum Thema "Safer Sex".
Marta erzählt von einer Mädchengruppe, die mehrheitlich muslimisch geprägt zu sein schien. Drei trugen den Hijab. "In dieser Gruppe habe ich einfach auch gemerkt, was die muslimischen Mädchen mit Hijab so rausgehauen haben an Faktenwissen." Über Spirale, Hormone, Pflaster und Vaginalringe hätten sie Bescheid gewusst.

Humoristisches auf Instagram

Marta ist nicht nur in Schulen unterwegs. „Wallah schäm dich“ heißt ihr Account auf Instagram, auf dem die Sozialarbeiterin manchmal auch mit einer Prise Humor über Themen wie Verhütung, Partnersuche und Geschlechtskrankheiten aufklärt. Sie ist Teil einer Entwicklung innerhalb der muslimischen Community, die nicht mehr zu übersehen ist. In Deutschland, aber auch in Europa und den USA gibt es eine Flut an Social-Media-Accounts, Büchern, Kursen und Vorträgen über das große, vermeintliche Tabuthema Sex.
Angeliqua Lindsay Ali trägt in ihrem Video auf Instagram ein leuchtend-oranges Kopftuch und lange baumelnde Ohrringe. Bekannt als die "Village Aunty", klärt sie online und vor Ort in muslimischen Communitys über Sex auf: von Penisgröße bis Sexspielzeug. Sie ist eine der bekanntesten muslimischen Stimmen zu diesem Thema in den USA und hat fast 50.000 Follower auf Instagram.
Sie klingt so: "Assalamu Alaikum, ich bin's, Angeliqua Ali, die Village Aunty, mit einem neuen Video zum Thema Sex und heute sprechen wir über den Mythos der Vaginal-Verengung. Genau, Leute, eng ist nicht immer das Richtige!"  

Alte Kunst der Erotik

Es gibt aber auch Männer, die sich der Sache annehmen. Zum Beispiel der nigerianisch-britische Historiker und Autor Habeeb Akande: "Der weibliche Orgasmus im Islam und in muslimischen Kulturen, das ist der Name meines nächsten Seminars" sagt er. "Während dieses Webinars werde ich darüber sprechen, was muslimische Erotologen und Wissenschaftler über die Rechte von Frauen auf sexuelle Erfüllung gesagt haben."
Akande schreibt Bücher über die Jahrhunderte alte Kunst der Erotik in muslimischen Gesellschaften, vor allem in Ostafrika. Im Mittelpunkt bei ihm steht die Frage: Wie können Männer ihre Frauen zum Orgasmus bringen? Er scheut nicht davor zurück, Kunststoffmodelle unterschiedlicher Vulven in die Kamera zu halten oder darüber zu sprechen, wie man eine Klitoris am besten stimuliert.
Akande und Ali sind Vorbilder für viele ähnliche Initiativen und Plattformen, die vor allem das Recht muslimischer Frauen auf ein erfülltes Sexualleben in den Fokus rücken. Ihre Inspiration holen sie sich in der islamischen Geschichte.

Offener Umgang über Jahrhunderte

"Das Thema Sex und Erotik ist allgegenwärtig", sagt der islamische Theologe Ali Ghandour, der an der Universität Münster zu Sex in vormodernen arabischen Schriften forscht. "Wir haben ungefähr ab dem 9. Jahrhundert, und zwar bis zum 19. Jahrhundert, kontinuierlich erotologische Werke." Sie hätten alles in medizinischen und pornografischen Kapiteln thematisiert. "Man hat Abhandlungen über Lustmaximierung, Aphrodisiaka, über Sexpositionen, über Geschichten, Ankekdoten, alle möglichen Krankheiten, die damals bekannt waren."
Über Jahrhunderte gab es in weiten Teilen der muslimischen Welt einen offenen und toleranten Umgang mit dem Thema Sexualität. "Es gab einen Bruch mit der eigenen Tradition", sagt Ghandour über das Ende des 19. Jahrhunderts.
Dafür gab es verschiedene Gründe: Zunächst kritisierten französische und britische Kolonialmächte muslimische Kulturen als sexuell zu zügellos und rückständig. Auch deshalb, weil nicht nur die heterosexuell männliche, sondern auch die weibliche und die homoerotische Lust Beachtung fanden. So führten die Briten Gesetze ein, die Homosexualität strafbar machten. Viele muslimische Gesellschaften reagierten auf die Vorwürfe und entwickelten ein sehr viel puritanischeres Verständnis von Sexualität. In dieser Zeit entstanden islamische Ideologien, die den Koran und andere religiöse Quellen strikter auslegten.

Konservative Angebote sind verbreitet

Heute versuchen Theologen und Aktivisten, wieder an die fast verschwundene Tradition erotischer Literatur und Aufklärung anzuknüpfen und sie fortzusetzen. Allerdings plädieren Accounts wie die von Ali und Akande, die sich in Europa und den USA für Sexualaufklärung einsetzen, nicht für sexuelle Freizügigkeit, sondern größtenteils für sexuelle Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe. Ghandour findet deshalb viele Angebote im Netz sehr konservativ. "Die reden jetzt über Sexualität nur in bestimmtem Rahmen und sie meinen auch oft nur heteronormative Sexualität." Anders sei das in vielen muslimisch geprägten Ländern. Sie seien oft weiter.
"Erstaunlicherweise sind sie sehr aktuell, beziehen sich auf moderne Studien der Sexualwissenschaften und der Medizin, versuchen so einen Wissenstransfer zu betreiben." Die Betreiber stammen aus dem Libanon, Ägypten, Marokko, Tunesien und Saudi-Arabien.
Ein Beispiel ist die Initiative „Mauj“, die von Frauen aus dem Libanon und Saudi-Arabien betrieben wird. Dort geht es um Themen wie den Schutz vor sexuellem Missbrauch, aber auch um weibliche Lust oder die Masturbation, die von vielen religiös geächtet wird – ein Thema, das die Accounts in Europa und den USA größtenteils noch umgehen.

Veränderung in Saudi-Arabien

Dass es mehr Freiräume gibt, um über Sex und Religion zu sprechen, könnte auch mit einer Entwicklung in Saudi Arabien zusammenhängen: Seit Kronprinz Mohammed bin Salman dort das Sagen hat, stehen wahabitische religiöse Gelehrte unter strenger Kontrolle und können nicht mehr so frei agieren. Die Flut an Videos und Texten mit streng patriarchalen Deutungen des Islams, die zuvor von Saudi Arabien aus in die Welt hinaus gesendet wurden, hat abgenommen.
Allerdings spielt für viele der muslimischen Aktivistinnen und Aktivisten das Thema Religion gar nicht so eine große Rolle. Denn auch die Jugendlichen beziehen ihre Moralvorstellung aus verschiedenen Quellen, sagt Sozialpädadgogin Marta. "Jede pickt sich raus, was zum eigenen Lebensstil gerade passt, und legitimiert das dann." Es fließe viel ein: Sozialisation, Umfeld, Peer Group und eigene Interessen. "Der Islam ist ja ein Teil unserer Identität, auch nur ein Puzzlestück von unserer Identität und nicht komplett alles."

Auch Muslime haben Sex vor der Ehe

Fest steht, Musliminnen und Muslime haben Sex vor der Ehe. Laut einer Studie der Forscherin Sobia Ali-Faisal sind es 66 Prozent der 17- bis 35-Jährigen in den USA. Theologische Grundlagen für manche der neuen Einstellungen zur Sexualität fehlen noch. Aber es wird daran gearbeitet, zum Beispiel in einem Forschungsprojekt am Berliner Institut für islamische Theologie, das sich mit neuen Ansätzen zu einer muslimischen Sexualethik befasst.

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