Sexualität, lexikalisiert
Zwischen 1928 und 1931 publizierte das Wiener Institut für Sexualforschung das umfassende "Bilderlexikon der Erotik", das alles damalige Wissen über die menschliche Sexualität und ihre Rolle in Literatur, Kunst und Sozialgeschichte zusammenfasste.
Seinen Namen verdankte das Pionierwerk einem einzigartigen Fundus von Abbildungen: Zu den sechstausend Bilddokumenten gehören Gemälde, Graphiken und Karikaturen, Plakate, Zeitungsannoncen, Flugblätter, Abbildungen von Gebrauchsgegenständen, aber auch medizinische und kriminologische Fotografien. Das Sexuallexikon geriet fast in Vergessenheit und ist auch antiquarisch schwer zu bekommen - eine digitale Neuausgabe hat das seltene Werk neu zugänglich gemacht.
"Der Tanz diente in seinem Ursprung wie auch heute noch dem Anreiz zur Liebe. Dem Geschlechtstriebe entsprungen, ist er ein Vorarbeiter zu dessen Erfüllung. Nach dem Beginn des geschlechtlichen Verkehrs verlieren bezeichnenderweise Mädchen oft viel von ihrer Tanzlust."
Gut 70 Jahre ist es alt, das "Bilderlexikon der Erotik". Tausende von Abbildungen und Stichworten geben Auskunft über das Geschlechtsleben des Menschen - die junge Sexualforschung am Anfang des 20. Jahrhunderts wollte umfassend und tabulos sein. Der Strom der Erläuterungen beginnt beim "Aberglauben"...
"Alle Liebestränke und Liebeszauber, die Zuneigung erwecken, zerstören und vorhersehen sollen. Auch der so genannte 'Sunamitismus' ist hierher zu rechnen - der Glaube an die lebensverlängernde Wirkung der Ausdünstung von jungen, unberührten Mädchen auf ältere Männer..."
... und fließt bis zur "Zwitterbildung, geistig"
"Siehe "Homosexualität"."
Die digitale Neuversion macht das umfangreiche Erotik-Material nun einem breiten Publikum zugänglich. Mehr als 70 Ärzte, Kriminalisten, Historiker, Juristen und Kunstexperten waren damals an dem ehrgeizigen Lexikon beteiligt - ein indischer Professor durfte auch etwas schreiben und eine Ehefrau eines Arztes.
Sachlichkeit war oberstes Prinzip, schließlich wollte die junge Sexualwissenschaft den Ruch des Halbseidenen loswerden. Band eins widmet sich der Kulturgeschichte. Akribisch werden Sitten und Gebräuche der Völker aufgelistet und lassen sich nun digital durchstöbern: Sexualpraktiken und Aphrodisiaka, Intimschmuck und Rituale.
"Kitzeln der Fußsohlen - seit alters her beliebtes Liebespräliminar. Schon im Altertum sehr bekannt, was aus zahlreichen klassischen Kunstwerken hervorgeht. Im Schlafzimmer der Zarin Anna Leopoldowna waren sechs offizielle Fußkitzlerinnen tätig, die während ihrer Tätigkeit schlüpfrige Anekdoten erzählen und laszive Lieder singen mussten."
Per Mausklick öffnet sich die Abbildung eines alten Holzschnittes, auf welchem sich die Zarin einer kitzelnden Damenschar in die Arme wirft. Band zwei des Lexikons erforscht das Sexuelle in Literatur und Kunst - ein opulentes Thema.
"Tenor. Ablöser des Kastraten. Das Lyrische ist sein Reich; es soll freilich durch Männlichkeit gefärbt sein. Gibt es etwas Lichtvolleres als eine tenorale Mittellage? Etwas Süßeres als eine Kavatine, die ein lyrischer Tenor in Obertönen der Keuschheit und Untertönen verruchtester Erotik vor sich hinsäuselt?"
Die schlichte, aber praktische Software "Digibib" erlaubt den Zugriff auf die Erotik-DVD. Im Funktionsbereich "Register" sind alle Artikel alphabetisch verzeichnet. Hyperlinks vernetzen die Lektüre, so dass man sich freudvoll von Text zu Text gleiten lassen kann und da bahnt sich manch moderne Errungenschaft an:
"Kino, pornographisches. In Tokio, Havanna und dem argentinischen Steppenhafen Rosario gibt es Kinotheater, in welchen pornographische Filme in regelrechten Theatervorstellungen gezeigt werden. In Rosario befindet sich das Kino in einem nach außen hin unauffälligen Hause und fasst vierhundert Personen."
Der dritte Teil des Lexikons behandelt medizinische, juristische und soziologische Fragen. Anfang der zwanziger Jahre noch aktuell:
"Onanieverhinderungsapparate. Man hat verschiedene mechanische Mittel vorgeschlagen und verwendet sie mitunter heute noch. Das einfachste besteht darin, dass man die Kinder nötigt, ihre Hände außer dem Bette zu lassen, auch das Festbinden derselben wurde versucht."
Und jede Menge Apparaturen. Auf dem Bildschirm erscheinen zwei "Onaniebandagen": hohlraumförmig für Knaben, dreieckig für Mädchen. Die metallenen Erzeugnisse scheinen einem modernen Fetisch-Katalog entsprungen. Auf viele Seitenwege der Erotik führt das digitale Lexikon, die aus der Geschichtsschreibung längst verschwunden sind - das erotische Kirchenlied etwa. Bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts war, so lesen wir, in Berlin ein Gesangbuch gebräuchlich, das die Reize des himmlischen Bräutigams höchst präzise beschrieb:
"O Liebster, du riechst so kräftig, so gut,
Erquickest die Seele, Leib, Leben und Blut.
Mein Engel, nimm alles und jedes, was mein,
Zu deiner gewünschten Belustigung ein."
Oder wer weiß heute noch, dass das bekannte Lied "Wie schön leuchtet der Morgenstern" im 17. Jahrhundert ein Hit auf Hochzeiten war? Die Brautgesellschaften schmetterten laut, wie der himmlische Geliebte die Braut bald "innerlich erquicken" werde - irgendwann wurde das Lied verboten. Einen Begriff sucht man in den viertausend Artikeln des Lexikons übrigens vergebens: Sex.
Die DVD-Rom "Bilderlexikon der Erotik" ist im Directmedia Verlag erschienen und kostet 45 Euro.
"Der Tanz diente in seinem Ursprung wie auch heute noch dem Anreiz zur Liebe. Dem Geschlechtstriebe entsprungen, ist er ein Vorarbeiter zu dessen Erfüllung. Nach dem Beginn des geschlechtlichen Verkehrs verlieren bezeichnenderweise Mädchen oft viel von ihrer Tanzlust."
Gut 70 Jahre ist es alt, das "Bilderlexikon der Erotik". Tausende von Abbildungen und Stichworten geben Auskunft über das Geschlechtsleben des Menschen - die junge Sexualforschung am Anfang des 20. Jahrhunderts wollte umfassend und tabulos sein. Der Strom der Erläuterungen beginnt beim "Aberglauben"...
"Alle Liebestränke und Liebeszauber, die Zuneigung erwecken, zerstören und vorhersehen sollen. Auch der so genannte 'Sunamitismus' ist hierher zu rechnen - der Glaube an die lebensverlängernde Wirkung der Ausdünstung von jungen, unberührten Mädchen auf ältere Männer..."
... und fließt bis zur "Zwitterbildung, geistig"
"Siehe "Homosexualität"."
Die digitale Neuversion macht das umfangreiche Erotik-Material nun einem breiten Publikum zugänglich. Mehr als 70 Ärzte, Kriminalisten, Historiker, Juristen und Kunstexperten waren damals an dem ehrgeizigen Lexikon beteiligt - ein indischer Professor durfte auch etwas schreiben und eine Ehefrau eines Arztes.
Sachlichkeit war oberstes Prinzip, schließlich wollte die junge Sexualwissenschaft den Ruch des Halbseidenen loswerden. Band eins widmet sich der Kulturgeschichte. Akribisch werden Sitten und Gebräuche der Völker aufgelistet und lassen sich nun digital durchstöbern: Sexualpraktiken und Aphrodisiaka, Intimschmuck und Rituale.
"Kitzeln der Fußsohlen - seit alters her beliebtes Liebespräliminar. Schon im Altertum sehr bekannt, was aus zahlreichen klassischen Kunstwerken hervorgeht. Im Schlafzimmer der Zarin Anna Leopoldowna waren sechs offizielle Fußkitzlerinnen tätig, die während ihrer Tätigkeit schlüpfrige Anekdoten erzählen und laszive Lieder singen mussten."
Per Mausklick öffnet sich die Abbildung eines alten Holzschnittes, auf welchem sich die Zarin einer kitzelnden Damenschar in die Arme wirft. Band zwei des Lexikons erforscht das Sexuelle in Literatur und Kunst - ein opulentes Thema.
"Tenor. Ablöser des Kastraten. Das Lyrische ist sein Reich; es soll freilich durch Männlichkeit gefärbt sein. Gibt es etwas Lichtvolleres als eine tenorale Mittellage? Etwas Süßeres als eine Kavatine, die ein lyrischer Tenor in Obertönen der Keuschheit und Untertönen verruchtester Erotik vor sich hinsäuselt?"
Die schlichte, aber praktische Software "Digibib" erlaubt den Zugriff auf die Erotik-DVD. Im Funktionsbereich "Register" sind alle Artikel alphabetisch verzeichnet. Hyperlinks vernetzen die Lektüre, so dass man sich freudvoll von Text zu Text gleiten lassen kann und da bahnt sich manch moderne Errungenschaft an:
"Kino, pornographisches. In Tokio, Havanna und dem argentinischen Steppenhafen Rosario gibt es Kinotheater, in welchen pornographische Filme in regelrechten Theatervorstellungen gezeigt werden. In Rosario befindet sich das Kino in einem nach außen hin unauffälligen Hause und fasst vierhundert Personen."
Der dritte Teil des Lexikons behandelt medizinische, juristische und soziologische Fragen. Anfang der zwanziger Jahre noch aktuell:
"Onanieverhinderungsapparate. Man hat verschiedene mechanische Mittel vorgeschlagen und verwendet sie mitunter heute noch. Das einfachste besteht darin, dass man die Kinder nötigt, ihre Hände außer dem Bette zu lassen, auch das Festbinden derselben wurde versucht."
Und jede Menge Apparaturen. Auf dem Bildschirm erscheinen zwei "Onaniebandagen": hohlraumförmig für Knaben, dreieckig für Mädchen. Die metallenen Erzeugnisse scheinen einem modernen Fetisch-Katalog entsprungen. Auf viele Seitenwege der Erotik führt das digitale Lexikon, die aus der Geschichtsschreibung längst verschwunden sind - das erotische Kirchenlied etwa. Bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts war, so lesen wir, in Berlin ein Gesangbuch gebräuchlich, das die Reize des himmlischen Bräutigams höchst präzise beschrieb:
"O Liebster, du riechst so kräftig, so gut,
Erquickest die Seele, Leib, Leben und Blut.
Mein Engel, nimm alles und jedes, was mein,
Zu deiner gewünschten Belustigung ein."
Oder wer weiß heute noch, dass das bekannte Lied "Wie schön leuchtet der Morgenstern" im 17. Jahrhundert ein Hit auf Hochzeiten war? Die Brautgesellschaften schmetterten laut, wie der himmlische Geliebte die Braut bald "innerlich erquicken" werde - irgendwann wurde das Lied verboten. Einen Begriff sucht man in den viertausend Artikeln des Lexikons übrigens vergebens: Sex.
Die DVD-Rom "Bilderlexikon der Erotik" ist im Directmedia Verlag erschienen und kostet 45 Euro.