Prüder zur Sonne, zur Freiheit?
Ein Roll-back hin zu erneuter Prüderie ist in Deutschland nicht ausgeschlossen. Die Anzeichen dafür mehren sich – Anmerkungen zu sexuell getriebenen Debatten der letzten Zeit.
Hurra – die Kreuzritter sind wieder da! Gut, ganz weg waren sie nie. Aber dieser para-religiöse Drang, die Welt per Kreuzzug zwangszubeglücken, hatte sich doch in ein paar Nischen verflüchtigt. Weiß doch die Welt seit Generationen, dass schon hinter der Eroberung Jerusalems schnöde Machtinteressen gesteckt hatten. Und hat uns die öltrunkene Geostrategiererei der Bush-Administration gelehrt, dass jeder Fundamentalismus zum digital-globalen Brandbeschleuniger taugt.
Da sind die Bewohner eines Landes, das sich von seinem Weltgenesungswesen verabschiedet hat, einfach alle gottsfroh und widmen sich der friedlichen Koexistenz im Innern. Deutschland, zum Beispiel, ist eine in Generationen gewachsene Demokratie. Deren Verfassung garantiert die Freiheit des Individuums. Ihre Geschichte ist geprägt von verschiedenen, auch schmerzhaften Aufräumarbeiten – allen voran mit den eigenen früheren Gräueltaten.
Auch die rechtliche Verankerung des sozialen Friedens und die sexuelle Liberalisierung gehören dazu. Homosexuelle sind inzwischen weitgehend gleichgestellt, Prostitution gilt seit 2002 nicht mehr als "unsittlich", sondern als Erwerbstätigkeit im Sinne des Grundgesetzes. Zwei schöne Beispiele für überfälligen Rechtsfrieden – zur Zufriedenheit, übrigens, der breiten Bevölkerung.
Mobbing mit der angeblichen Nähe zum "Milieu"
Nur dem antiliberalen Ungeist passt das nicht, und weil das mit globalen Kreuzzügen gerade heikel ist, tobt er sich eben lokal aus. Das ergiebigste Schlachtfeld – neben dem Fremdenhass – sind die gender politics. Mal geht es gegen Homosexuelle als Eltern, mal gegen die Entlastung für Mütter durch Kitas. Ende 2011 allerdings, als Günther Jauch auch die Fernseher der Republik mit einem Gerücht belästigte, rieb sich mancher Zeitgenosse die Augen: Die hübsche, junge Frau des Bundespräsidenten, kolportierte er, habe eventuell früher mal angeschafft. Wie kann man denn hier und heute eine Frau noch mit angeblicher Nähe zum Milieu mobben? Und noch absurder, wie will man ihren Mann damit desavouieren? Denn das war, über die Bande gespielt, das Ziel derer, die das Gerücht zuerst im Internet lanciert hatten.
Es war auch ein Testballon. Dass die "Ehre des Mannes" von der "Reinheit der Frau" abhängt, ist ein Kernstück des religiösen Fundamentalismus. Die aufgeklärte, an sexuelle Freiheit gewöhnte "Mitte der Gesellschaft" bringt man damit nicht zurück zur Prüderie. Ein Roll-back braucht andere Parolen. Sie werden seit 2013 getestet, an beiden, allen Intoleranzlern verhassten "Randgruppen" – Schwulen und Huren.
Frauenverachtung, Sexualpanik und Kommerzfeminismus
Erstere wurden rhetorisch mit "Pädophilie" gleichgeschaltet, letztere zu Opfern von Menschenhandel, zu "Zwangsprostituierten" erklärt: Von einer unheiligen Dreifaltigkeit aus Frauenverachtung, klerikaler Sexualpanik und Kommerzfeminismus. Mit erfundenen Zahlen, demagogischem furor teutonicus, wider alle Realität – zum Beispiel die einer veritablen neuen deutschen Hurenbewegung. Sexarbeiterinnen, die alle gottsfroh sind, endlich von der Justiz nicht mehr wie Berufsverbrecher behandelt zu werden und der Willkür von Polizei wie von Puffbesitzern ausgesetzt zu sein, sich ganz normal sozial- und krankenversichern und Verträge abschließen zu können. Und die es für einen elementaren humanen Fortschritt halten, endlich das Recht und die Fähigkeit zur freien Entscheidung zugebilligt zu bekommen – auch und gerade darüber, wie wann wo und mit wem sie Sex inszenieren und was ihre eigene Sexualität ist.
Aber sexuelle Selbstbestimmung ist Kreuzrittern verhasst, deshalb sind sie so homo- wie hurophob. Nur: prüder geht's weder zur Freiheit noch zur Sonne. Gender politics werden in demokratischen Gesellschaften öffentlich verhandelt. Wir alle entscheiden, was uns unsere Freiheit wert ist. Ob mit oder ohne Kreuz und Halbmond, ob homo-, hetero-, bi-, auto- oder asexuell.
Pieke Biermann, Jahrgang 1950, lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin in Berlin. Im Februar erscheint eine Neuauflage ihres soziologischen Klassikers von 1980: "Wir sind Frauen wie andere auch. Prostituierte und ihre Kämpfe".