Sexualmoral in der katholischen Kirche

Heilige Maria, erlöse uns von der Asexualität!

04:35 Minuten
Statue der Jungfrau Maria in Vietnam.
Wie wäre es, wenn die Marienverehrung Respekt vor der Realität des Sexuellen und einen verantwortlichen Umgang damit bedeuten würde, fragt Gesine Palmer. © picture alliance / BSIP / Deloche
Ein Kommentar von Gesine Palmer |
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Die katholische Kirche ist eine Männerveranstaltung – bis auf die eine zentrale Figur: Maria. Ihre Rolle als keusche Sexualitätsverweigerin bedarf dringend einer Neuinterpretation, meint die Religionsphilosophin Gesine Palmer.
In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts machte eine kleine Geschichte von Gott die Runde, in der dieser höchstselbst auf die Erde kommt und sich in eine Kirche verirrt.
Anders als der tradierte Gott der Christenheit ist er nicht allwissend, sondern kann richtig staunen: In dem dunklen, muffig riechenden Kirchenraum sieht er "viele Mütter mit Kind mit Reifen überm Kopf und ein fast sadistisches Standbild von einem Mann an einem Lattengerüst".


Hermann van Veen hat diese Geschichte erzählt in einer Zeit, in der jüngere Menschen in Europa endlich Schluss machen wollten mit den autoritären Ordnungen. Dazu versuchten sie, die sogenannte eigene Tradition mit fremden Augen anzusehen.
Van Veen war dabei keineswegs besonders radikal. Im Gegenteil: Seine Geschichte ist äußerst liebevoll erzählt – und Gott verbrüdert sich am Ende mit jemandem, der aus der Kirche geflohen ist.

Das unbefleckte Mutterbild ist weiterhin omnipräsent

50 Jahre später sind diese Darstellungen weiterhin nicht nur in christlichen Kirchen, sondern ebenso in den Museen der westlichen Welt allgegenwärtig. Insbesondere die emotionale Reaktion auf Bildnisse von in Tüchern gehüllten, keuschen Mutterfrauen scheint hinter dem Rücken einer vermeintlich interreligiösen Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum universal zu bleiben.
Multikulturelle Schulhöfe hallen wider von Streitereien, in denen die Reinheit der jeweiligen Mutter angezweifelt und verteidigt wird. Und in keiner gut sortierten Pop-Sammlung fehlt eine Version des "Ave Maria" von Schubert.
Mit dieser offenbar auch durch die 1234. Verkitschung nicht kaputtbaren Komposition versetzt sich der säkulare Mensch gerne mal in eine andächtig gefühlige Stimmung. Dogmatisch konzipiert als Inkarnation einer vollkommen asexuell sterilen Reinheit, einer selbstlosen, nur um die Bedürfnisse des Kindes kreisenden, allspendenden Mutter hat etwas an der Marien-Imago die Abschaffung des Keuschheitsideals überlebt – mitten in der westlichen Welt.

Holt Maria vom Sockel der unrealistischen Keuschheit!

An die Reinheitsfrage werden wir noch einmal heranmüssen. Die katholische Initiative "Maria 2.0" versucht es. Sie will Maria von ihrem Sockel holen, "in unsere Mitte, als Schwester, die in die gleiche Richtung schaut wie wir".
Sehr viele bunte Jungfrau Maria and Jesus Figuren in einem Laden.
Gesine Palmer: "Wie wäre es, wenn die Männerkirchen im Marienkult das Potenzial entdeckten, sich vor allem selbst zu erziehen?"© imago / Loop Images / John Greim
Diese katholischen Frauen wollen sich der universal-patriarchalischen Aufspaltung der Weiblichkeit in eine überhöhte "reine" Seite und eine zu jedem Missbrauch freigegebenen "unreinen" Seite nicht mehr unterstellen.
Sie fordern die Akzeptanz der Geschlechtlichkeit und das Recht auf ein verantwortetes Leben in gelingenden Beziehungen, egal, wie die religiöse und sexuelle Orientierung der Menschen ist. Ich sehe darin eine große Chance für eine Erneuerung der gebeutelten katholischen Kirche.

Respekt vor der Realität des Sexuellen

Wie wäre es, wenn die Männerkirchen die Marien-Imago nicht mehr in erster Linie zur Predigt von Keuschheit und Demut an die Frauen nutzten? Wie wäre es, wenn sie im Marienkult das Potenzial entdeckten, sich vor allem selbst zu erziehen?
Wie wäre es, wenn sie dieses "Nicht-zugreifen-dürfen" nicht kompensierten, indem sie sich – wie bisher üblich – unreiner "Hurenfrauen" umso enthemmter und verachtungsvoller bedienten, und auch nicht, indem sie auf vermeintlich noch reinere Wesen zugriffen, nämlich "unschuldige Knaben"? Wie wäre es, wenn die Marienverehrung Respekt vor der Realität des Sexuellen und einen verantwortlichen Umgang damit bedeuten würde?

Marias Tugenden sind wunderschön

Man müsste den Gläubigen zu sagen wagen: "Gott braucht nicht eure Keuschheit! Er braucht eure Wahrhaftigkeit und eure Gerechtigkeit." Und nicht nur die: Die in Maria symbolisierten Tugenden der Mütterlichkeit und Güte sind wunderschön.
Auf ihre reflektierte kulturelle Repräsentanz sollten wir gerade in Zeiten von systemischen Konflikten mit "chinesischen Kommunisten" einerseits, schroffpatriarchalischen Islamisten andererseits und verantwortungslosen Kapitalisten innerseits nicht verzichten.
Eine neue Maria könnte womöglich für eine eigene abendländische, nicht mehr frauen- und sexualfeindlichen Geistigkeit stehen.

Gesine Palmer, geboren 1960, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihre Themen sind Religion, Psychologie und Ethik.

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