Minderjährige Prostituierte im Berliner Tiergarten
Kinder und Jugendliche aus Rumänien und Bulgarien, die Sex gegen Geld anbieten: Die Ermittlungen im Umfeld der Prostitution Minderjähriger in Berlin seien äußerst schwierig, sagt die Polizei. Die Organisation Subway versucht, den Jungen zu helfen.
Der kleine, schmächtige Junge, nennen wir ihn Mihai, ist gerade acht Jahre alt. Er kommt aus der Nähe eines Dorfes der Stadt Cluj Napoca im Nordwesten Rumäniens. Seine Familie ist bettelarm – legale Jobs gibt es für sie kaum. Die Kinder müssen dazuverdienen. Auch Mihai. Deshalb ist er in Berlin. Im Tiergarten hat ihn ein älterer Mann angesprochen.
Die Polizei beobachtet die beiden, wie sie in eine Kneipe gehen. "Wir unterhalten uns nur", sagt der Mann, als die Polizisten ihn ansprechen. Doch später, wenn die Beamten weg sind, wird er vermutlich noch Sex mit Mihai haben – vielleicht auf der Toilette des Lokals, vielleicht in den Gebüschen des Tiergartens – nicht weit von der Stelle, an der er Mihai antraf.
Vergleichbare Situation wie in den 1990ern
"Diese offene Zurschaustellung von Kindern und Jugendlichen zur sexuellen Ausbeutung, das ist eine neue Qualität, die wir seit dem Sommer 2017 jetzt wieder festgestellt haben. Die hat es in den 90er-Jahren gegeben, also in den frühen 90er-Jahren. Da waren es vorwiegend Kinder, die Opfer der jugoslawischen Bürgerkriege waren. Aber ja, das hat in den letzten Jahren einfach nicht in der Öffentlichkeit stattgefunden", sagt Ralf Rötten. Er leitet die Hilfsorganisation Subway. Sie betreut die Kinder, Jugendlichen und jungen Männer bis zum Alter von 27 und macht ihnen Hilfsangebote.
"Auch in diesem Jahr, nicht nur im letzten, ist es so, dass die minderjährigen Jungen, die wir im Tiergarten angetroffen haben beim Sex gegen Geld, eigentlich genauso plötzlich wieder weg waren, wie sie da waren."
Sowohl die Polizei als auch Subway gehen davon aus, dass sie von Schleppern nach Berlin gebracht wurden – möglicherweise sogar mit dem Einverständnis ihrer Eltern.
"Es handelte sich ganz, ganz eindeutig um materielle Not dieser Jungen. Und welche Form von Ausbeutung oder Zwang dahintersteckt, ließ sich nicht detailliert ermitteln. Aber wir hatten schon den Eindruck, dass da Strukturen hinter stecken, die die Jungen nach Berlin verbracht haben."
Die Prostitution selbst ist keine Straftat
Strafbar machen sich die Kinder und Jugendlichen nicht. Die Rumänen und Bulgaren dürfen sich als EU-Bürger in Deutschland aufhalten. Auch die Prostitution selbst ist keine Straftat, wie Thomas Neuendorf von der Berliner Polizei erklärt:
"Wir müssen also auf andere Punkte gucken. Für uns ist also ganz besonders wichtig: Haben wir hier Zuhälterei? Also werden Personen gezwungen, dieser Prostitution nachzugehen, oder haben wir Minderjährige, die dort missbraucht werden. Dazu können wir feststellen: Ja, es gibt einige Fälle, wo etwas Derartiges festgestellt wurde, es ist aber auch kein Massenanfall derartiger Delikte. Wobei ich natürlich zugebe, dass es auch sehr, sehr schwer ist, hier zu ermitteln."
Im letzten Jahr sei nur ein einziger Fall von Missbrauch von Minderjährigen durch einen Freier aktenkundig geworden. Zwar sei die Polizei dort immer wieder mit Streifen unterwegs, die Täter bekomme sie aber selten zu fassen:
"Man müsste den Täter, also den Freier, der einen Minderjährigen sexuell missbraucht, also in flagranti erwischen – und das ist eine ganz, ganz schwere Sache. Weil sich Freier und letztendlich derjenige, der sich prostituiert, ja einig sind in ihrem Geschäft, kommt das eben doch nicht bei der Polizei zur Anzeige. Deswegen sind es eben so wenige Fälle – trotz unserer Kontrollen."
Die Jungen sind inzwischen aus Berlin verschwunden
Selbst, wenn mal ein Täter aufgegriffen wird, ist es schwer, die Jungen zu einer Aussage gegen die Freier zu bewegen. Ralf Rötten von Subway vermutet, dass sie unter großem Druck stehen, Geld zu verdienen:
"Es ist einfach so, dass ein sehr großer Teil der Jungen, die wir da zum Beispiel letzten Sommer kennengelernt haben oder die wir sonst kennenlernen, aus wirtschaftlich sehr, sehr schwachen Regionen stammt und es einfach eine sehr große Not der Familien gibt, die dann auch dazu führen, dass jedes einzelne Familienmitglied zum Familieneinkommen beizutragen hat."
Derzeit seien nur noch 16- bis 17-jährige Stricher sowie junge Erwachsene im Tiergarten. Die jungen Minderjährigen und Kinder seien seit Anfang August weg. Ralf Rötten vermutet, dass das mit polizeilichen Ermittlungen zusammenhängt. Nun bleibt abzuwarten, ob sie nächstes Jahr wieder zum Anschaffen nach Berlin kommen.
"Das, was da grundsätzlich hinter steckt, sind unerträgliche soziale Zustände in den Herkunftsländern, die mangelnde soziale Absicherung und Versorgung innerhalb Europas, die nicht-gleichen Startchancen für Kinder und Jugendliche innerhalb der Europäischen Union – diese Probleme sind alle überhaupt nicht gelöst, sondern das ordnungspolitische Problem sozusagen, das ist gelöst."
Die meisten jungen Sexarbeiter leben in Berlin auf der Straße oder in Abbruchhäusern. Bei Subway bekommen sie etwas zu essen, können duschen, ihre Kleidung wechseln und erfahren, wie sie sich aus ihrem Umfeld befreien könnten.
"Wir sind halt jede Woche drei, vier Mal da, wo die Jungen sich aufhalten. Die Jungen sehen, dass ältere junge Männer, die anschaffen gehen, mit uns reden, von uns Kondome annehmen oder erfahren auch über die etwas älteren, dass man bei uns eben Versorgungsleistungen in Anspruch nehmen kann. Wir zwingen die Jungen nie, irgendetwas zu sagen. Also sie können uns Dinge erzählen, aber wir quetschen sie nie aus. Und das ist die Grundvoraussetzung für das Vertrauensverhältnis und was den Jungen extrem wichtig ist, ist, dass wir nicht in einer direkten Kooperationsverbindung mit Jugendämtern und Polizei stehen."
Wer nutzt die Not der Kinder und Jugendlichen aus?
Die Polizei hat jedoch die erwachsenen Männer, die die Not der Kinder und Jugendlichen ausnutzen, im Visier, wie Thomas Neuendorf erklärt.
"Bei uns läuft ein komplexes Verfahren, ein Großverfahren, was genau diesen Deliktsbereich zum Inhalt hat. Wegen der laufenden Ermittlungen kann ich dazu aber keine Details benennen, es geht auf jeden Fall um den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen."
Die Berliner Polizei dürfe keine rechtsfreien Räume zulassen. Ralf Rötten begrüßt es daher sehr, dass sie ihre Präsenz im Tiergarten erhöht hat:
"Es ist einfach deutlich gemacht worden, dass die Bundesrepublik ein Rechtsstaat ist, der es nicht dulden kann, dass erwachsene Männer kontinuierlich Jungen missbrauchen und sexuell ausbeuten. Aber damit ist das Problem als solches, nämlich die Not der Jungen, nicht behoben."