Sexuelle Praktiken als Kulturphänomen

Rezensiert von Katrin Jäger |
Deutschlands bekanntester Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch analysiert in seinem neuen Buch "Neosexualitäten" sexuelle Aktivitäten und geschlechtliche Identität. Jenseits von moralischen Einordnungen beschreibt er zum Beispiel Heterosexualität, Homosexualität und diverse sexuelle Praktiken als kulturelle Phänomene. Heutzutage, so seine These, erleben wir eine neosexuelle Revolution.
Es ist schwierig, das Thema Sexualität anders zu begreifen als das die Heterosexualität normal und andere Praktiken abweichend seien. Doch gerade dazu lädt der Autor Volkmar Sigusch in seinem neuen Buch "Neosexualitäten" ein. Wer sich darauf einlässt, dem öffnen sich faszinierende Welten. Auf 225 Seiten erläutert der Sexualwissenschaftler in vielen Essays, wie sich das Verständnis von Geschlecht und Sexualität im Laufe der Geschichte gewandelt hat. Die Heterosexualität beispielsweise ist keineswegs Natur, sondern eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Derzeit beobachtet Sigusch eine neosexuelle Revolution.

Sigusch: "Zum Beispiel im geschlechtlichen Bereich, da würde ich dann von Neogeschlecht sprechen, wären die so genannten Transsexuellen. Diese Menschen haben sich in einem Prozess von inzwischen 70, 80 Jahren, zu einer Eigenheit entwickelt, und bestehen zum Teil jedenfalls darauf, dass sie über ihr eigenes Leben entscheiden."

Als zissexuell beschreibt der Autor dann im Gegensatz zu den Transsexuellen diejenigen, die bei ihrem angeborenen Körpergeschlecht bleiben. Mit Wortschöpfungen wie dieser gelingt es ihm, die Vielfalt geschlechtlicher Phänomene darzustellen, ohne zu hierarchisieren oder zu moralisieren. Love Parades, die öffentliche Diskussion über das Potenzmittel Viagra, die Anerkennung homosexueller Lebenspartnerschaften, die Explosion der sexuellen Möglichkeiten, all das hält Sigusch für einen Effekt des Kapitalismus.

Sigusch: "Ich denke, dass dem Kapitalismus vollkommen Wurscht ist, was die Menschen in diesen intimen Bereichen tun, solange es nicht ökonomische Dinge tangiert. Im Fall der Sexualität gibt es die Paradoxie, dass die Gesellschaft immer unsozialer wird, dass aber die Freiheiten, in Gänsefüßchen würde ich sie noch setzen, im Geschlechtlichen und sexuellen Bereich eher zunehmen."

Gerade junge Frauen setzen sich über geschlechtliche Konventionen hinweg, leben Erotik jenseits der Geschlechternormen in vielfältigen, wechselnden Formen. Die andere Seite der Medaille kapitalistischer Sexdemokratie: Die Vermarktung von Sex und Eros verheizt die Intimsphäre. Das ist gesellschaftliche Normalität, und darin lauert das Krankhafte, schreibt Sigusch, genau wie im Hass gegen Minderheiten. Dieses Phänomen belegt er mit dem Begriff der Normopathie.

Sigusch: "Ich habe das am Beispiel der Perversionen versucht, in diesem Buch zu illustrieren, in dem ich dargelegt habe, dass alles, was man einem perversen Menschen vorhält, bestimmte Dinge, die er tut oder nicht tut, dass die bei dem so genannten Normalen ebenso vorkommen, mit dem Unterschied, dass sie bei dem sogenannten perversen Menschen etwas verschärft sind. Vom Prinzip her aber gibt es diese Differenz gar nicht. Deswegen heißt ein Stück ja auch in dem Buch: Von der Einheit der normalen mit der perversen Sexualität."

Normopathie, Zissexuelle, Neoallianz, Kultursodomie, das sind einige von Siguschs Wortschöpfungen. Sein Vokabular ermöglicht eine gänzlich neue Betrachtung des Sexuellen. Das ist spannend und anstrengend zugleich. Denn die vielen verblüffenden Erkenntnisse erschließen sich nur demjenigen Leser, der die Vokabeln während der Lektüre zu lernen bereit ist.

Sigusch: "Auf ´nem anderen Niveau wird sehr viel geschrieben über Sexuelles. Und es muss auch ´ne ernsthafte und eine begriffliche Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Gegenstand geben. Und das versuche ich. Und in diesem Fall ist es so gefasst, dass es interessierte Menschen, denke ich, ohne Weiteres verstehen können."

Die Mühe lohnt sich. Denn der Text entwirrt die Mesalliance zwischen den sexuellen Phänomenen und ihrer moralischen Bewertung. Bei Sigusch gibt es kein schlichtes Entweder Oder, Gut oder Böse. Er betrachtet die Welt des Sexes komplex, dafür aber mit Humor. Davon zeugt im Anhang das ausführliche Glossar über diesen Mundus Sexualis. Beim Stichwort "normal" zum Beispiel steht:

"Eigentlich ist es verrückt, darum zu kämpfen, normal zu sein. Denn nichts ist langweiliger als das. Aber nichts ist zugleich auch beruhigender."

Volkmar Sigusch: Neosexualitäten.
Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion
225 Seiten
EUR 24,90
Campus Verlag