"Die Zivilgesellschaft ist aus dem Ruder gelaufen"
Die Kölner Polizei sei in der Silvesternacht überfordert gewesen, kritisiert der Kriminologe Joachim Kersten. So sei es zu Gewaltvorfällen gekommen, die man nur aus Kriegsgeschehen kenne.
Der Kriminologe Joachim Kersten hat sich kritisch über das Verhalten der Kölner Polizei in der Silvesternacht geäußert. Seiner Einschätzung nach sei die Polizei überfordert gewesen, sagte er im Deutschlandradio Kultur. Um die Situation in den Griff zu bekommen, hätten ganz viele Polizisten vor Ort sein müssen. Die Zivilgesellschaft sei an jenem Abend "aus dem Ruder geraten", kritisierte er:
"Und dann spielen sich Formen ab, die man eigentlich nur aus Kriegsgeschehen oder aus Bürgerkriegen kennt."
Bei der Diskussion über die Kölner Vorfälle dürfe man den Diskurs über Flüchtlinge nicht mit der Thematik von Gewalt gegen Frauen vermischen, warnte Kersten. Natürlich habe in jener Nacht ein "unerträgliches Vorgehen" gegenüber Frauen stattgefunden:
"Auf der anderen Seite muss man schon sehen, dass der allgemeine Vorwurf – das sei eben typisch männlich und Männergewalt und so weiter – hier nicht so richtig greift. Das ist eine Situation, die aus dem Ruder gelaufen ist."
Das erklärte der Forschungsprofessor von der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster.
Frauen- und Schwulenfeindlichkeit in "bestimmten Milieus"
Es gebe jedoch eine "kulturelle Nähe von bestimmten Milieus" zu Frauen- oder Schwulenfeindlichkeit und zu bestimmten Formen von Kriminalität, äußerte Kersten:
"Dies aber in die Schublade von allgemeiner Frauenfeindlichkeit und 'Alle Frauen sind Opfer' zu stecken, das halte ich (...) für komplett falsch."
Bei den Tätern habe es sich offenbar um gut deutsch sprechende Personen gehandelt und nicht um Menschen, die erst vor vier Wochen in Deutschland angekommen seien, betonte Kersten:
"Das sind doch völlig andere Leute. Und diese Gewalt gegen Frauen ist eine völlig andere Kategorie von Gewalt als die Gewalt, die im Haus oder in der Familie stattfindet oder im Büro. Und das ist so ein bisschen etwas Deutsches: Diese Hysterie: 'Jemand muss schuld sein.' Man schmeißt alles in einen Topf, rührt einmal herum und dann ist alles klar. Das bringt dann nicht weiter."
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Rund 1.000 Männer versammelten sich in der Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof und aus dieser Menge heraus haben sich Gruppen gebildet, die Frauen einkreisten, aggressiv sexuell belästigten und vor allen Dingen beraubten. So stellt sich diese Nacht inzwischen dar. Die Kölner Politik und die Polizei haben auf diese Ereignisse bestürzt reagiert, wenn auch erst einige Tage später, nie wieder dürfe so etwas passieren, heißt es jetzt.
Aber was ist genau passiert, wie kann man das nach bisherigem Kenntnisstand bewerten und wie kann man denn tatsächlich sicherstellen, dass es sich nicht wiederholt? Wir wollen darüber mit Joachim Kersten sprechen, emeritierter Professor für Allgemeine Polizeiwissenschaften an der Hochschule der Polizei in Münster und dort auch immer noch als Forschungsprofessor tätig. Schönen guten Morgen, Herr Kersten!
Joachim Kersten: Guten Morgen!
Kassel: Nach dem, was wir bisher wissen über diese Ereignisse in Köln, war die Polizei in der Silvesternacht überfordert?
Kersten: Ja, das sieht so aus. Was heißt überfordert, das heißt, da hätten ganz viele Polizistinnen und Polizisten da sein müssen, um diese Situation in den Griff zu kriegen. Na ja, was soll man sagen, da gerät die Zivilgesellschaft aus dem Ruder und dann spielen sich Formen ab, die man eigentlich nur aus Kriegsgeschehen oder aus Bürgerkriegen kennt.
Kassel: Aber was hat sich da genau abgespielt? Wir wissen es natürlich nur zum Teil, aber wenn man das, was man jetzt schon weiß, zusammenfasst, ist das wirklich eine völlig neue Form von Kriminalität?
Kersten: Als Wissenschaftler bin ich da ein bisschen skeptisch, was völlig Neues hat es noch nie gegeben, wird es nie wieder geben. Ich meine, die Ereignisse mit den Hooligans, die im Prinzip als Männergruppe sich in Frauenfeindlichkeit, Schwulenfeindlichkeit, genereller Hasseinstellung von diesen Herren da vorne auf dem Domplatz nicht weit unterscheiden. Ich denke, so was hat es schon mal gegeben, ja. Wenn meine Tochter da gewesen wäre, hätte ich der auch nicht geraten, als die Hooligans da die Autos, die Polizeiautos umgekippt haben und gebrandschatzt haben, hätte ich auch nicht geraten: Geh da mal hin und sprich mit denen.
"Maßnahmen sind ein Zeichen für die Öffentlichkeit"
Kassel: Nun sind ja gestern in Köln gemeinsam von der Polizei und der Stadtverwaltung Maßnahmen vorgestellt worden, die das in Zukunft verhindern sollen, gerade im Karneval. Mehr Polizei soll da generell im Einsatz sein, mobile Videoüberwachung soll es geben, es wird auch diskutiert über Aufenthaltsverbote für bekannte Täter. Ist das ausreichend?
Kersten: Ich denke, dass ein Versuch, so was mithilfe von Technologie und auch von mehr Polizeipräsenz zu kontrollieren, dass das sinnvoll ist und dass das auch ein Zeichen ist für die Öffentlichkeit. Ich meine, der Karneval steht vor der Tür. Man muss dazu aber auch sagen, dass der Bahnhof eigentlich als Gelände Zuständigkeit der Bundespolizei ist. Die Bundespolizei steht im Moment in Salzburg an der Grenze, also, solche Dinge müsste man vielleicht auch mal in Betracht ziehen. Wenn man jetzt ganz schnell sagt, die Polizei war schuld und die Polizei konnte nicht, das war ja bei den Hooligans auch so voriges Jahr. Natürlich wäre das besser, wenn so was kontrolliert werden könnte.
Ich habe jetzt aber von außen, so von den Kommentaren her das Gefühl, dass hier zwei Sachen vermischt werden. Also, einmal geht es um diesen Flüchtlingsdiskurs, also, die Flüchtlinge schleppen Krankheiten ein, die können sich nicht benehmen und so weiter und so fort, was wir da jeden Montag auf irgendwelchen Demonstrationen hören. Und der zweite ist Gewalt gegen Frauen. Natürlich ist es ganz klar ein unerträgliches Vorgehen von diesen Burschen dort, was die mit den Frauen gemacht haben. Auf der anderen Seite muss man schon sehen, dass der allgemeine Vorwurf, das sei eben typisch männlich und Männergewalt und so weiter und so fort, hier nicht so richtig greift. Das ist eine Situation, die aus dem Ruder gelaufen ist.
Und diese Argumente, die gestern dann auch zu lesen waren – jede dritte Frau ist Opfer von solcher Gewalt –, das ist eine Hochrechnung, die halte ich für gefährlich und falsch, wenn man das dann nämlich nicht bekämpft sondern sagt, das ist dann ja genauso schlimm wie falschparken, das macht auch jeder Dritte. Was man allerdings gelesen hat in diesen Untersuchungen – die waren auch methodisch nicht besonders toll –, dass aber herauskam ganz klar, dass von den Migrantenfrauen, die interviewt wurden, sehr, sehr viel mehr Opfer von physischer und sexueller Gewalt geworden sind als die einheimischen Frauen.
Das heißt, es gibt eine, wie immer man das beschreiben will, sagen wir mal: kulturelle Nähe von bestimmten Milieus zu Frauen-, Schwulenfeindlichkeit und zu bestimmten Formen von Kriminalität. Das kann man feststellen, kann man sagen. Dies aber in die Schublade von allgemeiner Frauenfeindlichkeit und "Alle Frauen sind Opfer" zu stecken, das halte ich gerade von den sozial Bewegten, die sich da geäußert haben, für komplett falsch.
Hang zu Straftaten in "bestimmten Milieus"
Kassel: Aber wie führt man diesen Diskurs denn vernünftig? Tappt man nicht auch wieder in eine Falle, nämlich der Angst davor, Rechtsradikalen Futter zu geben, wenn man immer wieder als Erstes dazu sagt: Man kann aber das nicht sagen, man kann das nicht sagen? Sie haben es ja selber gerade gesagt, einen gewissen Zusammenhang zwischen gewissen Milieus und einer gewissen Neigung zu diesen Straftaten scheint es ja zu geben?
Kersten: Ja, aber das ist ein ganz anderes Milieu als das Flüchtlingsmilieu. Entschuldigung, also, auch die Worte, die verwendet worden sind, das Verhalten vor den Hotels spricht dafür, dass das Leute sind, die sehr, sehr wohl Deutsch, wahrscheinlich sogar gut Kölsch können, und nicht Leute, die gerade vor vier Wochen aus irgendwelchen Wanderungen, wo sie sich und ihre Kinder in lebensgefährlichen Situationen befunden haben, mit dem Schlauchboot angekommen sind. Das sind doch völlig andere Leute. Und diese Gewalt gegen Frauen ist eine völlig andere Kategorie von Gewalt als die Gewalt, die im Haus oder in der Familie stattfindet oder im Büro.
Und das ist so ein bisschen was Deutsches, diese Hysterie. Jemand muss schuld sein, man schmeißt alles in einen Topf, rührt einmal rum und dann ist alles klar. Das bringt da nicht weiter. Weiterbringt, dass man guckt, wie man wie gesagt – das haben Sie ja auch gesagt – in solchen Situationen, also Massensituationen oder ich sage mal Major Events, das kann Fußball sein, das sind solche Sachen wie Karneval, das ist aber auch Silvester feiern, wie man dort eine bessere Absicherung ... - das muss passieren, das ist richtig.
Auf der anderen Seite muss man aber auch sicher sehen, dass die Flüchtlinge und diese Milieus – das Wort habe ich ja verwendet –, die es in Berlin gibt, die es in Hamburg gibt, die es in Frankfurt gibt, in jeder Stadt von Migranten und deren Kindern und deren Enkeln, die in stärkerem Maße in Kriminalität verwickelt sind, wie man das löst, ist eine ganz andere Frage.
Kassel: Deutliche Worte von Joachim Kersten. Er ist inzwischen Forschungsprofessor, war vorher auch ordentlicher Professor an der Hochschule der Polizei in Münster. Mit ihm haben wir über die Konsequenzen geredet, die man aus den Ereignissen der Silvesternacht in Köln ziehen muss und kann, nach dem, was wir bisher wissen, ich betone das jetzt noch mal. Herr Kersten, vielen Dank für dieses Gespräch!
Kersten: Ja, ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.