Wir hören keinen Aufschrei
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Eine minderjährige Geliebte, Gewalt, Sexexzesse: Rockmusiker wie Iggy Pop, David Bowie oder Don Henley waren für solche Delikte bekannt. Empörung gab es aber keine - im Unterschied zu Fällen bei schwarzen Musikern, kritisiert der Musikjournalist Jens Balzer.
Dass Iggy Pop und David Bowie sich eine minderjährige Geliebte geteilt haben, ist kein Geheimnis. Über Paul Trynkas Iggy-Pop-Biografie schrieb der Guardian, das Buch beinhalte "fast jedes Laster, das man sich in einer Rock-Biografie wünschen kann: Exhibitionismus, Sex mit Minderjährigen, Selbstverstümmelung, psychische Störungen, Drogenmissbrauch, Untreue, Betrug, Gewalt, Tod und David Bowie". Don Henley von den Eagles wurde wegen der Verführung Minderjähriger zu Straftaten angeklagt, der Notarzt musste eine nackte 16-Jährige mit Überdosis in Henleys Haus behandeln.
Vielleicht ist es ganz einfach Rassismus
Diese Liste ließe sich fortführen. Doch die öffentliche Empörung über die Vergehen der - weißen - Männer des Rock bleibt aus. Auch im Zeitalter von #Metoo. Iggy Pop wird gerade mit seinem neuen Album "Free" als Legende gefeiert.
"Vielleicht hat das ganz einfach etwas mit Rassismus zu tun", sagt der Musikjournalist Jens Balzer im Deutschlandfunk Kultur. Denn alle Männer, an denen sich in der jüngeren Vergangenheit die Debatte um Sexismus und sexualisierte Gewalt im Pop entzündet hatte, seien "farbige Männer": R. Kelly, Michael Jackson oder der junge Rapper XXXTentacion.
"Hier ist die Öffentlichkeit augenscheinlich eher geneigt, das Thema der sexualisierten Gewalt auf die Agenda zu setzen", so Balzer. Bis hin zu der Frage, ob man ihre Musik noch spielen oder hören dürfe.
Bewunderung für sexuelle Grenzüberschreitung
XXXTentacion hat die Debatte nicht geschadet. Er war bis zu seiner Ermordung im vergangenen Sommer der erfolgreichste Rapper seiner Generation - und das, obwohl er zum Beispiel darüber sang, wie er gewalttätig gegen das ungeborene Kind seiner schwangeren Ex-Freundin vorgeht.
Ein Grund für dieses Phänomen könnte sein, so Balzer, dass heute wie damals in den 1970er-Jahren "die Popmusik von der Inszenierung und vom Versprechen der sexuellen Entfesselung lebt". Er glaube, dass es eine grundlegende Bewunderung für die sexuelle Grenzüberschreitung und Potenz gebe, "aus der sich die Milde erklärt, mit der große Teile des Publikums auch über offenkundigen Missbrauch hinweggesehen haben und bis heute hinwegsehen".
Warnung vor einer neuen Zensurdebatte
Zum Nimbus des Popstars trage wesentlich der Glaube bei, "dass er – ob real oder vermeintlich – den besseren, anderen, reicheren, enthemmteren, rücksichtsloseren Sex hat als die ihn bewundernden Menschen". Das gelte für die glamourösen Rockstars der 70er mit ihrer Ästhetik der erotischen Grenzüberschreitung wie für die Rapper der Gegenwart.
Darf man, soll man die Musik dieser Künstler noch hören? Das müsse jeder selbst entscheiden, betont Balzer: "Es wäre nichts falscher, als jetzt in eine neue Zensurdebatte einzusteigen." Man sollte aber dennoch über die Gründe reden, warum das Hören dieser Musik nicht akzeptabel sein könnte.
(abr/mfk)