Sexueller Missbrauch

"Das Thema kommt langsam in staatlichen Schulen an"

Pater Klaus Mertes
Pater Klaus Mertes © picture alliance / dpa / Foto: Karlheinz Schindler
Pater Klaus Mertes im Gespräch mit Philipp Gessler |
Mit der Bekanntmachung der Missbrauchsfälle im Berliner Canisius-Kollegs stieß Pater Klaus Mertes vor fünf Jahren die Aufklärung in der Katholischen Kirche an. Seitdem sei viel passiert, mittlerweile fragen ihn auch staatliche Schulleiter nach präventiven Maßnahmen.
Philipp Gessler: Die katholische Kirche hat sich verändert, in Deutschland und weltweit. Letzteres liegt vor allem an dem neuen Papst Franziskus, sicherlich. Die Veränderung der katholischen Kirche hierzulande wurde in erster Linie angestoßen durch die Aufdeckung des tausendfachen Missbrauchs junger Menschen durch Priester in den vergangenen Jahrzehnten. Etwas mehr Demut und Nachdenklichkeit ist eingezogen in die Kirche. Angestoßen hat die Aufklärung hierzulande Pater Klaus Mertes, der vor fünf Jahren Leiter des renommierten Canisius-Kollegs war, eines Jesuiten-Gymnasiums in Berlin.
Er machte den Missbrauch von Jungen vor allem in den 70er- und 80er-Jahren in der Schule öffentlich; den innerkirchlichen Tsunami, der folgte, haben Sie noch in Erinnerung. Pater Mertes ist seit rund vier Jahren nun Direktor des Kollegs Sankt Blasien im Hochschwarzwald, ebenfalls eine sehr gute Jesuiten-Schule. Aber das Thema Missbrauch lässt ihn nicht los. Fünf Jahre nach seiner großen Aufklärungstat in Berlin hatte ich die Möglichkeit, mit ihm über das Thema Missbrauch und Schule, Missbrauch und Kirche zu sprechen. Meine erste Frage an ihn war, ob er eigentlich zufrieden sei mit der Umsetzung der neuen, schärferen, innerkirchlichen Richtlinien zur Prävention, zur Verhinderung von neuen Fällen von Missbrauch.
Klaus Mertes: Ja, die Prävention ist ja das Entscheidende. Ich kann das sozusagen von der Basis her sagen. Nehmen Sie mal das Beispiel Selbstverpflichtungserklärung zum Thema Nähe und Distanz: Zu den Präventionsmaßnahmen gehört, dass alle Lehrerinnen und Lehrer an einer kirchlichen Schule sich verpflichten, eine Erklärung zu unterschreiben, in der bestimmte Regeln zum Thema Nähe und Distanz zu Schülern verpflichtend dargestellt sind. So, und das kann man jetzt unterschreiben und ad acta legen, und die Frage ist, was ist die präventive Wirkung.
Die präventive Wirkung ist ja nur dann gegeben, wenn der Inhalt dieser Selbstverpflichtungserklärung auch zur Überzeugung derjenigen wird, die unterschreiben. Und das geschieht ja nicht einfach durch die Unterschrift. Die Umsetzung ist eine Kleinarbeit, eine mühevolle Arbeit, die an der Basis geschehen muss. Und da würde ich sagen, da ist in vielen Bereichen innerkirchlich viel gelungen, ich würde sogar sagen: mehr gelungen als in anderen, nicht kirchlichen Schulen und Organisationen. Aber trotzdem ist das etwas, was immer wieder neu und in jeder Schüler- und in jeder Lehrergeneration dann wieder neu errungen werden muss.
Gessler: Wie sieht es denn mit den, sagen wir, ganz normalen staatlichen Schulen aus? Ist da das Bewusstsein auch gewachsen?
"Schulleiter stehen in den staatlichen Schulen vor denselben Problemen"
Mertes: Das kommt mir dann entgegen, wenn sich staatliche Schulleiter bei mir melden und sich erkundigen, wie wir es bei uns machen. Daraus merke ich, dass das Thema dann auch langsam in den staatlichen Schulen ankommt. Es besteht ja die naheliegende Versuchung, in anderen Schulen zu sagen, das ist ein Problem der kirchlichen Schulen oder der reformpädagogischen Schulen, wir haben damit nichts zu tun. Letztlich stehen die Schulleiterinnen und Schulleiter in den staatlichen Schulen vor denselben Problemen, und auch diejenigen, die in den Schulämtern Verantwortung tragen dafür, dass die Fragestellungen der Prävention überhaupt vor Ort angenommen werden. Und da sind wir am Anfang.
Gessler: Wie ist es denn, wenn in der Schule deutlich wird, dass tatsächlich in der Familie ein familiärer, ein sexueller Missbrauch stattfindet? Ist da auch das Bewusstsein gewachsen, dass man da was machen muss?
Mertes: Es ist uns gelungen, in den letzten Jahren Schule überhaupt darauf vorzubereiten, mit solchen Meldungen angemessen umzugehen. Ich nehme das ganz konkrete Beispiel, dass ein Verdacht aufkommt, dass eine elf- oder zwölfjährige Schülerin familiär missbraucht wird, das wird irgendwie sichtbar in der Schule. Schon die Tatsache, dass es sichtbar ist, ist ein Erfolg der letzten fünf Jahre, dass das Thema überhaupt im Bewusstsein da ist, als mögliche Analyse eines auffälligen Verhaltens von der Schule in den Blick genommen wird. Dann greifen an der Stelle auch die Präventionsmaßnahmen, wo sich Schule inzwischen vernetzt hat mit entsprechenden Organisationen, die das Fachwissen haben, um damit entsprechend umzugehen.
Also, mit Wendepunkt, Zartbitter, Tauwetter oder wie die unterschiedlichen Institutionen heißen, damit Lehrer überhaupt Beratung finden können, wie sie vorgehen können im Falle, dass sie den Verdacht haben, dass eine ihrer Schülerinnen familiär sexuell missbraucht wird. Das ist eine zweite Präventionsmaßnahme, die inzwischen greift. Und das Dritte ist dann die Begleitung von Lehrerinnen und Lehrern und auch Schulleitern bei der Konfrontation mit den Eltern. Und hier ist im Bereich der Prävention, der Zusammenarbeit mit den entsprechenden Institutionen in den letzten fünf Jahren viel geschehen, das ist ein großer Fortschritt.
Gessler: Nun gibt es ja auch Gewalt- und Erniedrigungsrituale unter Jugendlichen. Diese Gewalt unter Jugendlichen wird oft zu wenig beachtet, oder?
Mertes: Ja, es gibt natürlich auch den sexuellen Missbrauch unter Jugendlichen. Also, zum Beispiel im Kontext von Alkoholmissbrauch. Und im Kontext von Erniedrigungsritualen, die einen Initiationssinn haben. Mein Mantra dazu ist geworden, dass es einen inneren Zusammenhang gibt zwischen Prävention und Intervention. Das ist vielleicht ein bisschen abstrakt ausgedrückt, ich mache es mal konkret: Sie sehen Alkoholmissbrauch im Internat bei Jugendlichen. Sie decken das Thema auf und entdecken dann plötzlich hinter dem Alkoholmissbrauch Erniedrigungsriten, Gewaltrituale, über die Zugehörigkeit gegründet wird, Ausgrenzung von solchen, die sich diesen Ritualen nicht unterwerfen, bis hin zu sexuellem Missbrauch.
Schauen Sie sich nur einfach an, was in Abiturzeitungen Schülerinnen und Schüler miteinander machen in übergriffiger Sprache, schauen Sie, was sie in den neuen Medien miteinander machen, was da in dem Bereich geschieht. Das ist ja auch alles im Kern Gewalt, die aber gar nicht als Gewalt gesehen oder qualifiziert wird, sodass sie dann manchmal auch in Konflikt mit Jugendlichen hineingehen müssen und sagen müssen: Stopp, hier, selbst wenn ihr das schön findet, euch Spaß macht, das ist Gewalt und deswegen sagt die Institution nein dazu.
Gessler: Bei den Tätern hat man ja, was Missbrauch angeht – egal jetzt, in welcher Form –, oft das Problem, dass sie geschützt werden durch das Arbeitsrecht. Ist das tatsächlich ein großes Problem?
"Schüler müssen als schutzbefohlen definiert werden"
Mertes: Ja, das ist ein ganz gravierendes Problem, weil es auf ein Dilemma hinweist. Also, der bekannteste Fall, der hier in Baden-Württemberg gewesen ist vor anderthalb Jahren, war der, dass ein Aushilfslehrer bei einer Klassenfahrt eine sexuelle Beziehung begonnen hat zu einer 14-jährigen Schülerin. Er wurde von der Schule gekündigt und die Kündigung musste nach entsprechendem Verfahren wieder rückgängig gemacht werden. Mit der Begründung des Gerichtes, dass ja hier kein Abhängigkeitsverhältnis bestünde, weil der Lehrer die Schülerin ja nicht unterrichte, sondern nur ein indirektes Verhältnis zu ihr habe über die Klassenfahrt.
So, und da stellen sich natürlich mehrere Fragen: Haben Schulleitungen überhaupt die Mittel an der Hand, um gegenüber Tätern vorzugehen? Dies angesichts der Tatsache, dass natürlich angestellte Kolleginnen und Kollegen ein Recht haben auf den Schutz durch das Arbeitsrecht. Da plädiere ich ganz eindeutig dafür zu sagen: Grundsätzlich gilt, dass an jeder Schule ein Schüler oder eine Schülerin als schutzbefohlen definiert werden muss. Sogar, ich würde das sogar auf volljährige Schüler erweitern. Das heißt, dass die Abhängigkeitsbeziehung Lehrer und Schüler nicht nur zwischen denen juristisch so definiert wird, die sie tatsächlich unterrichten, sondern zwischen allen Lehrern an einer Schule und allenSchülerinnen und Schülern an einer Schule.
Gessler: Ist denn jetzt in den letzten fünf Jahren eigentlich was passiert bei den öffentlichen Lehrplänen für den Sexualkundeunterricht? Wurde da irgendwie die Missbrauchsdebatte aufgenommen?
Mertes: Die Lehrpläne haben reagiert auf den Missbrauch. Die Präventionsmaßnahmen sind ja zum großen Teil auch verbunden gewesen mit Reflexion der Lehrpläne, und zwar in zwei Dimensionen. Ja, ich habe das ganz konkret am Canisius-Kolleg erlebt, dass plötzlich in den Monaten, nach denen die Missbrauchsdebatten hochgekommen waren, immer mehr Fragen kamen zum Beispiel an den Sexualaufklärungsunterricht, auch von Eltern, ob das nicht eigentlich auch schon übergriffig und missbräuchlich sei, was da gemacht wird. Zum Beispiel wenn im Biologieunterricht ein Koitus gezeigt wird, ist das schon Pornografie in der Schule? Wo wird es übergriffig? Oder sexistische Bilder bei Aufgabenstellungen im Englischunterricht, hatten wir ein ganz konkretes Problem, das wir lösen mussten.
Also, es gibt eine neue Sensibilität dafür, von der Missbrauchsthematik her auf die Lehrpläne zu schauen. Ich bin auf der anderen Seite dann wiederum sehr verwundert darüber, wie wenig das in die wissenschaftliche pädagogische Diskussion hineingekommen ist. Also, wenn ich sexualpädagogische Konzepte sehe, wie sie etwa von der Gesellschaft für Sexualpädagogik zurzeit propagiert werden, in denen Sexualkundeunterricht faktisch offen ist für jede Form von Missbrauch, weil die Machtasymmetrie zwischen Lehrern und Schülern gar nicht reflektiert wird im Kontext dieser Projekte, dann finde ich das hoch problematisch. Also, Beispiel: Ich finde, ein Schüler darf einen Lehrer nicht im Unterricht fragen, was ist deine Lieblingsstellung beim Sex? Das ist eine Frage, die überhaupt gar nicht in die Schule hineingehört, und zwar deswegen, weil sie ja innerhalb der Machtasymmetrie zwischen Lehrer und Schüler gestellt wird. Aber es gibt eben inzwischen ganz viele Konzepte eben im sexualpädagogischen Aufklärungsunterricht, der eben genau aktiv in die Intimdimension von Schülern hineinstoßen will und das zum Konzept macht. Und das, finde ich, ist dann wieder missbräuchlich oder mindestens hoch missbrauchsanfällig.
Gessler: Wir haben jetzt viel über die Schule geredet, aber trotzdem will ich noch mal kurz auch über die Kirche reden. Da sind ja jetzt im Augenblick immer noch viele Verfahren auch in Rom anhängig. Warum dauert das eigentlich so lange?
"Wo findet denn in Rom das Controlling statt?"
Mertes: Ja, das ist ein großes Problem. Und ich kann nur die Verzweiflung und die Mutlosigkeit der Beteiligten, auch gerade der Opfer noch einmal teilen, die darunter leiden, dass es unglaublich lange Bearbeitungszeiten dieser Dinge im Vatikan gibt. Ich weiß, es ist auch nicht klar, wer das überhaupt bearbeitet, wie viele dafür zur Verfügung stehen. Und was noch mal hinzukommt ist die Frage: Wo findet denn in Rom das Controlling statt? Also, wo ist die Unabhängigkeit bei der Aufklärung von anhängigen Fällen garantiert? Oder wird das jetzt wiederum nur von Klerikern gemacht, die im geheimen Kämmerlein arbeiten?
Gessler: Sie hatten ja von Mantren gesprochen, die Sie immer wieder äußern. Eines dieser Mantren ist ja, dass tatsächlich überall Missbrauch möglich ist, wo eben autoritäre Strukturen herrschen, ob das nun in der Kirche ist oder eben in der Schule.
Mertes: Ja.
Gessler: Was kann man denn daran ändern?
Mertes: Zunächst mal ist wichtig, die Erkenntnis klar vor Augen zu haben. Das ist eine der ganz entscheidenden Erkenntnisse der letzten fünf Jahre: In fast allen Fällen, ja, ich würde sagen, vielleicht in allen Fällen, die mir begegnet sind jedenfalls, findet sexueller Missbrauch und Machtmissbrauch statt im Kontext von autoritären Strukturen. Es gibt immer einen systemischen Zusammenhang, es gibt übrigens auch immer einen Zusammenhang von mehr oder weniger explizitem Mitwissen. Deswegen ist die Frage der Strukturierung von Macht auch in der Kirche eben eine entscheidende Frage für die Prävention und muss als solche akzeptiert werden. Und deswegen reicht ja eben die Missbrauchsgeschichte und die Missbrauchsaufarbeitung in die Aufarbeitung der Strukturen hinein.
Es gibt in der Kirche zurzeit viele autoritäre geistliche Gruppen, in denen geistliche Begleitung nach dem Motto geschieht, dass ein Priester beansprucht, anderen zu sagen, was der Wille Gottes für sie sei. Solche Systeme sind sofort zugleich hoch missbrauchsanfällig in Bezug auf sexualisierte Gewalt. Es gibt aber auch das Problem in der katholischen Kirche der Überhöhung des priesterlichen und bischöflichen Amtes auf Einzelpersonen hin bis hin zur Papstfrömmigkeit der letzten zwei Jahrhunderte, die überhaupt gar keine kritischen Dimensionen mehr zuließ. Und ohne die Öffnung für kritische Verfahren, in denen Macht auch kontrolliert wird, wird es eine angemessene Aufarbeitung der Missbrauchsfälle nicht geben. Das ist meine feste Überzeugung. Praktisch würde das für mich bedeuten, dass man in der katholischen Kirche anfängt, Verfahren einzuführen bei den Bischofsernennungen, bei der Verteilung von Macht, in der es mehr Beteiligung gibt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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