Christoph Fleischmann, studierter Theologe, arbeitet seit 2003 als freischaffender Journalist und Moderator vor allem für den WDR-Hörfunk und andere ARD-Sender. 2010 erschien sein Buch "Gewinn in alle Ewigkeit. Kapitalismus als Religion" im Rotpunktverlag. Weitere Informationen auf seiner Website.
Die Opfer verdienen Respekt und Entschädigung
Inzwischen ist die deutsche Gesellschaft sensibilisiert für die Leiden von Überlebenden sexuellen Missbrauchs. Was aber noch aussteht, ist eine angemessene und zeitgemäße Reform des Opferentschädigungsgesetzes, meint der Theologe Christoph Fleischmann.
Ein Satz, den fast jeder Mensch gehört hat, der als Kind sexuellen Missbrauch erlitten hat, ist: "Du darfst es niemandem erzählen!" So hat es der Täter eingeschärft, und die Angst und die Scham sitzen danach tief. Und wenn die Kinder doch reden, erste zarte Andeutungen, dann machen sie nicht selten die Erfahrung, dass die Hinweise nicht wahrgenommen werden und ihnen nicht geglaubt wird.
Das Verbrechen des Missbrauchs scheint zu monströs, als dass die anderen es fassen könnten. Und so wird geschwiegen, oft Jahre und Jahrzehnte lang. Das wurde auch im Jahr 2010 deutlich durch die massenhafte Aufdeckung von Missbrauch in Kirchen und Schulen; Taten, die zum Teil schon lange zurücklagen. Damals rückte das Thema in die Schlagzeilen und auf die politische Agenda.
Staat muss Bürger vor Gewalt schützen
Wer in Deutschland Opfer einer Gewalttat wird, hat ein Recht auf Entschädigung. Sie kann nicht nur in einem Zivilprozess vom Täter eingeklagt werden; es entsteht auch ein Anspruch gegenüber dem Staat. Den regelt das Opferentschädigungsgesetz. Der Leitgedanke dahinter ist, dass der Staat eine Verantwortung hat, seine Bürger vor Gewalt zu schützen. Ein Verbrechen ist so gesehen auch ein Staatsversagen – oder anders gesagt: ein Versagen der menschlichen Gemeinschaft. Bei einem sexuellen Missbrauch hat meist irgendjemand weggesehen – manchmal Privatpersonen, manchmal Vertreter staatlicher Einrichtungen.
Für viele Überlebende sexuellen Missbrauchs ist eine juristische Aufarbeitung nicht mehr möglich, weil verjährt. Für sie bleibt nur das Opferentschädigungsgesetz. Dort aber sind die Hürden hoch. Die Antragsteller müssen nachweisen, dass eine Straftat an ihnen begangen wurde, und ihre physischen oder psychischen Beeinträchtigungen von dem Missbrauch herrühren. Wer will das feststellen?
"Die glauben mir nicht"
Es schlägt die Stunde der Gutachter, die in Ermangelung von Zeugen die Glaubhaftigkeit der Antragsteller bescheinigen sollen. Am Ende sagen sie nicht selten: Die Schilderung der Antragstellerin kann nicht verifiziert werden. Für die Überlebenden des Missbrauchs übersetzt sich das dann in: Die glauben mir nicht – wie mir schon früher nicht geglaubt wurde.
Und dann ist noch wichtig, zu wieviel Prozent der Antragsteller durch die Tat geschädigt ist: 20, 40 oder gar 60 Prozent? Das Leid muss exakt vermessen sein, damit es entschädigt werden kann. Aber nicht jedes Leid ist gleich viel wert: Wer vor 1976 im Westen und vor 1990 im Osten Missbrauch erlitten hat, muss höhere Anforderungen erfüllen, mindestens zu 50 Prozent geschädigt sein. Warum gelten für diese sogenannten "Altfälle" andere Regeln? Es soll wohl Geld gespart werden. Für die Überlebenden sexueller Gewalt übersetzt sich das in: Mein Leid wird nicht anerkannt. Mir wird nicht geglaubt.
Kein Fortschritt beim Entschädigungsgesetz
Nach der medialen Erregung 2010 kam das Thema in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2013; dort wurde vereinbart, das Opferentschädigungsgesetz in einem "zeitgemäßen Regelwerk" neu zu ordnen. Die Aufgabe fiel in das Ressort von Andrea Nahles, damals Arbeits- und Sozialministerin. Aber über vier Jahre kam man nicht über einen ersten Arbeitsentwurf hinaus. So taucht das Thema im aktuellen Koalitionsvertrag mit ähnlichen Worten wieder auf.
Schlimmer aber noch: die oben beschriebenen Hürden wurden in dem Arbeitsentwurf nicht abgebaut. Zwar betont man im Ministerium, dass noch nichts entschieden sei, aber der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, hat wohl schon keine ganz großen Hoffnungen mehr in die Reform. Er hat einen Plan B in der Tasche: Eine Bundesstiftung, die Missbrauchsüberlebenden unabhängig von Stichtagen schneller und unbürokratischer helfen soll – und dann wahrscheinlich weniger Geld bewilligen kann.
Es ist beschämend, denn es ist ein Versagen der Gemeinschaft, die nicht hören will, was Menschen Schlimmes erlebt haben, und die dem lebenslangen Leid, das aus der bösen Tat folgt, die Anerkennung verweigert.