Der Premier entschuldigt sich
Sexuelle Übergriffe in Australien gab es in kirchlichen Einrichtungen, aber auch bei den Pfadfindern, in Sozialverbänden und in Sportvereinen. Am 22. Oktober wird sich die australische Regierung offiziell bei den zehntausenden Opfern entschuldigen.
Willkommens-Ständchen für die High Society. Eine Sieben Mann-Kapelle der Heilsarmee Sydney steht fröstelnd vor dem "Hilton" in der Innenstadt und begleitet musikalisch den Aufmarsch von Abendkleidern und Smokings, von Geld und Macht. Drinnen, im Ballsaal des Fünf-Sterne-Hotels, treffen sich 500 der oberen Zehntausend von Sydney zu einer Benefiz-Gala. Der Erlös in Millionenhöhe kommt der Heilsarmee zugute. Eigentlich hätte Colin Farrell das Grußwort an die Gäste richten sollen, aber nach 38 Jahren bei der "Salvation Army" will der Seelsorger mit der Organisation nichts mehr zu tun haben.
Die Heilsarmee hat als Organisation versagt
Seit bekannt wurde, dass über Jahrzehnte schutzbedürftige Kinder in Heimen der Heilsarmee misshandelt und sexuell missbraucht wurden, schämt sich Farrell für die dunkelblaue Uniform, die er früher jeden Tag und mit so viel Stolz getragen hat.
"Von unserem großen, alljährlichen Spendenaufruf will ich diesmal nichts wissen. Ich glaube auch nicht, dass ich weiter an Haustüren klopfen werde, um für die Heilsarmee um Geld zu bitten. Wir haben als wohltätige Organisation versagt, wir haben es möglich gemacht, dass Kinderschänder Zugang zu Kindern hatten. Das ist, als ob man einem Alkoholiker eine Bar anvertraut."
Die Heilsarmee ist einer der ältesten und reichsten Wohlfahrtsverbände des Landes. Seit über 150 Jahren vertrauen Australier darauf, dass sich die "Salvos" um die Armen und Obdachlosen, die sozial Ausgegrenzten und die Drogenabhängigen kümmern. Aber statt sich für die Schwächsten der Gesellschaft stark zu machen, ließ die Wohltätigkeitsorganisation sie oft im Stich.
Null Toleranz für Kindesmissbrauch
Es brauchte eine landesweite Untersuchung privater, staatlicher und kirchlicher Institutionen in Australien, um sexuelle Übergriffe auch bei der Heilsarmee publik zu machen. Seitdem betreibt James Condon, der Sprecher der "Salvation Army", Schadensbegrenzung.
"Ich war schockiert, beschämt und bestürzt darüber, wieviel Missbrauch es durch Mitglieder der Heilsarmee und Angestellte in unseren Einrichtungen über die Jahre gegeben hat. Ich möchte aber versichern, dass wir Null Toleranz für Kindesmissbrauch haben und Sicherheitsvorkehrungen getroffen haben, um Kinder und andere Schutzbedürftige, die sich in unserer Obhut befinden, zu schützen."
"Wie habe ich das überlebt?"
Für Jenny Cox kommen diese Maßnahmen zu spät. "Ich frage mich oft, wie ich damals überlebt habe", wundert sich die heute 49-Jährige bei einer Tasse Tee in ihrer Sozialwohnung am Stadtrand von Sydney. "Damals" war Mitte der 80er-Jahre, ein Waisenheim der Heilsarmee. Jenny hatte Sommersprossen, blonde Zöpfe und ihr ganzes Leben vor sich – bis sie der neue Heimleiter in sein Büro bestellte, die Tür hinter ihr abschloss und sich an ihr verging.
"Ich war acht Jahre alt, als ich das erste Mal vergewaltigt wurde. Ich erinnere mich, dass ich mich vor Schock nicht bewegen konnte. Dieser Missbrauch ging jahrelang weiter. Schon als kleines Mädchen habe ich mich regelmäßig selbst verletzt und meine Haut aufgeritzt. Das tat ich immer, wenn ich mit alledem nicht fertig wurde."
Die Schule hat Jenny nach der siebten Klasse abgebrochen, sie kann heute noch nicht richtig lesen und schreiben. Nie mehr als ein Teilzeitjob im Supermarkt, eine längere Beziehung hat sie nie gehabt.
"Niemand hat uns geglaubt"
Jenny gehört zu einer Generation misshandeter Heimkinder, die später nicht umarmt oder berührt werden wollten, weil sie den Unterschied zwischen Zuneigung und Missbrauch nie erfahren haben. Kinder wie der heute 66jährige Ed Gumble. Mit neun kam er in einen Hort der katholischen Kirche. Dort wurde er zu harter Arbeit gezwungen, gedemütigt, geschlagen und von fünf Priestern immer wieder sexuell missbraucht.
"Jedesmal, wenn wir uns wehren wollten, wurden wir noch schlechter behandelt. Niemand glaubte uns – es stand unser Wort gegen das der Priester. Die Kirche hat meine Kindheit und Jugend zerstört. Sollte ich morgen sterben, dann möchte ich für 20 Jahre wiedergeboren werden - nur um meine Kindheit erleben zu können."
444 Tage Anhörungen, 1200 Opfer im Zeugenstand
Ed und Jenny sind nur zwei von Zehntausenden, die Ähnliches erlitten haben. In Einrichtungen der Kirche und von Wohlfahrtsorganisationen, bei den Pfadfindern, Sozialverbänden oder in Sportvereinen. Fünf Jahre lang untersuchte eine richterliche Kommission den institutionellen sexuellen Missbrauch von Kindern in Australien – ein Mammutunterfangen. 444 Tage Anhörungen überall im Land, 1200 Opfer im Zeugenstand. Was sie erzählten, traf Australien wie ein Schlag in die Magengrube. Niemand konnte ahnen, wie weit verbreitet der Missbrauch war und wie abscheulich, wie sehr die Opfer gelitten hatten und immer noch leiden.
Richter Peter McClellan, der Vorsitzende der Untersuchungskommission, sprach von einer nationalen Tragödie.
"Wir fanden häufig amtliches Versagen. Anzeigen von Opfern wurden nicht auf- oder ernstgenommen. Die Polizei und Kinderschutzbehörden schenkten Opfern keinen Glauben und weigerten sich, angeblichen Missbrauch zu untersuchen. Viele Einrichtungen schützten lieber die Täter und ihren Ruf als die Kinder in ihrer Obhut – ohne Rücksicht darauf, was sie den betroffenen Kindern damit antun."
Eine Kommission, die die richtigen Fragen stellt
Die Streitkräfte, die Polizei oder die Kirche: keine Einrichtung wurde verschont. Die Kommission stellte furchtlos die richtigen Fragen, die Opfer gaben offen, ehrlich und couragiert Antwort. Die Öffentlichkeit und die Medien reagierten nicht mit Spott oder Zweifel gegenüber den Missbrauchten – sie zeigten Anteilnahme und Respekt.
Aimee Foster wurde als Kind bei den Pfadfindern wiederholt von einem älteren Gruppenleiter vergewaltigt. Erlebnisse, die sie 24 Jahre lang verdrängt hatte. Doch den Mut zu finden, vor der Kommission auszusagen, meint Aimee, habe ihr Würde und Selbstwertgefühl zurückgegeben.
"Ich dachte, was ich durchgemacht habe, würde niemanden interessieren. Es mir von der Seele zu reden, war das Beste, das ich tun konnte. Alle Scham und die Last der Erinnerung sind verschwunden – auch die Vorwürfe, die man sich ein Leben lang macht und die Schuld, die man bei sich selbst sucht."
200 Empfehlungen, um Missbrauch zu verhindern
Rob Walsh spürt zum ersten Mal seit 38 Jahren keine Wut mehr. Nicht auf den Priester, der ihn 1980 missbraucht hat, und nicht auf die katholische Kirche, die damals sein Schweigen für ein paar tausend Euro erkaufte und den Pfarrer einfach in eine andere Gemeinde versetzte. Denn seit Ende 2017 der Abschlussbericht der Untersuchungskommisssion vorliegt, hofft Rob, dass es mit dem Verleugnen, Vertuschen und Verharmlosen von sexuellem Missbrauch an Kindern in Australiens Institutionen vorbei ist.
"Das Problem 'Kindesmissbrauch' hätte von der Regierung schon viel früher in Angriff genommen werden sollen. Wir Opfer haben lange dafür hart und unermüdlich gekämpft. Aber erst die Arbeit der Kommission in den letzten fünf Jahren hat uns Anerkennung und Wiedergutmachung gebracht."
Der Bericht der Kommission umfasst mehrere zehntausend Seiten und einen Katalog mit gut 200 Empfehlungen um Fälle institutionellen Missbrauchs künftig zu verhindern. Dazu gehören die Einrichtung einer landesweiten Kinderschutzbehörde, einer Datenbank für Berufstätige und Freiwillige, die mit Minderjährigen arbeiten und einer Hotline, um Missbrauchsfälle zu melden.
Schadensersatz: maximal 90.000 Euro pro Person
Von staatlicher Seite wurde allen Forderungen zugestimmt – auch Schadensersatzzahlungen. Missbrauchsopfer haben demnach Anspruch auf höchstens 90.000 Euro pro Person - zahlen müssen die Einrichtungen, in deren Obhut die Übergriffe auf Kinder stattfanden.
Von den Kirchen über die Pfadfinder und die Heilsarmee bis hin zum Verein christlicher junger Männer: all die Organisationen, die lange wegschauten was hinter geschlossenen Türen in ihren Einrichtungen passierte, haben sich inzwischen öffentlich bei den Missbrauchsopfern entschuldigt. "Bloße Worte sind billig", sagt Peter Gogarty vom australischen Kinderschutzbund, es sei an der Zeit, dass diese Institutionen für ihre Untaten – buchstäblich - bezahlten.
"Das wird die seelischen Wunden der Überlebenden auch nicht völlig heilen, aber Schadensersatz ist ein wichtiger Schritt. Viele der Opfer haben noch einen langen Weg vor sich. Dafür brauchen sie Zeit. Sie sind nicht von heute auf morgen wieder in Ordnung, so einfach ist das nicht."
Die australische Regierung hat die fünfjährige Arbeit der Untersuchungskommission mit 220 Millionen Euro finanziert – jetzt aber will sie ein Zeichen setzen.
Öffentliche Entschuldigung am 22. Oktober
Premierminister Scott Morrison wird sich im Namen des Parlaments bei den geschätzt 60.000 überlebenden Missbrauchsopfern entschuldigen. Für das, was ihnen als Kinder angetan wurde und dafür, dass ihnen die Behörden oft nicht glaubten und untätig blieben. Fehler, die verschärfte Gesetze und Vorschriften beseitigen sollen.
Vergewaltigungsopfer Rob Walsh ist bereit zuzuhören: "Wenn dieser Entschuldigung auch Taten folgen, dann werde ich sie auch zu hundert Prozent annehmen. Ich werde mir frei nehmen, damit ich an diesem Tag in Canberra sein kann."
Abendgottesdienst in St. Helens im Westen von Sydney. Die schwere, hölzerne Eingangstür der Backsteinkirche ist halb geöffnet, daneben hat jemand das Wort "Kinderschänder" auf das Mauerwerk gesprüht. Das Graffiti tauchte auf, als bekannt wurde, dass 62 Prozent aller gemeldeten sexuellen Übergriffe an Minderjährigen in betreuten Einrichtungen von Geistlichen der katholischen Kirche begangen wurden. Kirchensprecher Francis Sullivan versucht erst gar nicht, die Zahlen anzuzweifeln.
"Die Kirche mussste ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Nur so konnte das Ausmaß des Missbrauchs und eine Kultur des Verschweigens und Abstreitens publik gemacht werden. Zu lange sind diese Misshandlungen im Verborgenen geblieben. Australien ist an einem Scheideweg. Wir haben fünf Jahre lang den Opfern zugehört, jetzt müssen wir dafür sorgen, dass es nie wieder Opfer gibt."
Das Beichtgeheimnis schützt Pädophile
Auch die Kirchen haben eingewilligt Schadensersatz zu zahlen, doch Kritiker sind skeptisch. Sie fürchten, bei Höchstzahlungen von nur 90.000 Euro je Missbrauchsopfer könnten die Kirchen so versuchen, weit kostspieligere Zivilklagen zu umgehen. Zwei zentrale Forderungen der Untersuchungskommission rütteln am Fundament der katholischen Kirche. Das verpflichtende Zölibat solle abgeschafft und ein freiwilliges eingeführt werden - und zweitens: das Beichtgeheimnis müsse gelockert werden, damit Priester Fälle sexuellen Missbrauchs anzeigen können, von denen sie im Beichtstuhl erfahren. Beides hat die Kirche bereits abgelehnt. Peter Gogarty vom australischen Kinderschutzbund ist nicht überrascht.
"Es besteht kein Zweifel, dass sich Pädophile in der katholischen Kirche durch das Beichtgeheimnis jeder Verantwortung entziehen. Sie sollten mit der gleichen Härte des Gesetzes verfolgt werden wie jeder andere."
Zehntausende Kinder, die über Jahrzehnte in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen sexuell missbraucht wurden – genaue Zahlen wird es nie geben. Die Regierung rechnet mit etwa 60.000 Schadensersatzforderungen. Graham Rundle aber soll leer ausgehen. Als Kind seelisch und körperlich mißhandelt, geriet er mit 19 auf die schiefe Bahn. Graham wurde straffällig, selbst zum Missbraucher. Wer als früheres Opfer später zum Täter wird, hat kein Recht auf Entschädigung. "Wir werden ein zweites Mal bestraft", sagt Graham, "ein Scheck oder eine Entschuldigung ändern gar nichts. Wir alle sind zu lebenslänglich verurteilt."
"Die Wahrheit ist, dass wir den Missbrauch weder vergessen noch verarbeiten. Auch wenn wir längst Erwachsene sind, kommen die Erinnerungen daran immer wieder zurück. Wir alle durften nie Kinder sein – dieses Recht wurde uns genommen. Keine noch so große Menge Geld wird uns jemals dafür entschädigen können."