Wie die Colonia Dignidad zu Fall kam
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Die deutsche Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile war ein Ort der Folter, der Repression und des sexuellen Missbrauchs. Sie flog auf, weil zwei mutige chilenische Kinder laut "Nein" sagten.
"Ich habe den Brief auf dem Klo geschrieben. Das war der einzige Ort in der Colonia Dignidad, wo es keine Kameras gab. Dann habe ich ihn einem der anderen chilenischen Jungen gegeben, der abends wieder nach Hause gehen konnte. Er hat meiner Mutter dann den Brief gebracht", sagt Cristóbal Parada.
"Es war nur ein Zettel. Darauf stand 'Hilf mir, hol mich hier raus, der Mann' – Cristóbal wusste nicht, wie er das sagen sollte - 'er steckt ihn mir rein.' Das hat mich sehr wütend gemacht. Ich habe sofort als Mutter gehandelt und gesagt: 'Nein, das reicht!' Don Hernán: eine Anwaltskoryphäe, eine Persönlichkeit sagte...", so Cristóbals Mutter Jacqueline Pachego.
"Als Erwachsener, als Rechtsanwalt konnte ich doch diesen zwölfjährigen Jungen nicht allein lassen, der bereit war, sich Paul Schäfer, der Colonia Dignidad und ihren Unterstützern bei der Polizei, der Justiz und der Politik entgegenzustellen. Und der immer wieder sagte: 'Dort werden Kinder missbraucht.'"
Er war 12 Jahre alt, als er zur Sekte kam
Heute lebt Jacqueline Pacheco, die Mutter von Cristóbal Parada, der auf dem Klo den Zettel schrieb, in der chilenischen Hauptstadt Santiago. Die agile Frau ist 51, sie trägt einen Pferdeschwanz, eine schicke schwarze Bluse und ist bereits Großmutter. Sie arbeitet als Altenpflegerin. In ihrer Mietwohnung läuft der Fernseher, der große Kühlschrank brummt, auf dem Balkon bellt ihr Hund, ein Windspiel klimpert.
Inzwischen sind ihre Kinder erwachsen, sie sind oft am Wochenende da und seit einiger Zeit lebt ihr zwölfjähriger Enkel bei ihr. Zwölf war auch ihr ältester Sohn Cristóbal, als er Mitte der 1990er-Jahre in der Colonia Dignidad missbraucht und festgehalten wurde. Wie es dazu kam, wie er entkommen konnte und warum die Geschichte immer noch nicht zu Ende ist, das berichten mir Cristóbal Parada und seine Mutter im Dezember 2018, während wir in ihrem Wohnzimmer zwischen Ventilator und bunt geschmücktem Weihnachtsbaum auf dem Sofa sitzen.
Cristóbal ist heute 35: Er trägt Jeans und T-Shirt. Er lebt in einem anderen Stadtteil, ist aber häufig bei seiner Mutter. Er bringt und holt seinen zwölf Jahre alten Sohn. Seit zwei Jahren arbeitet Cristóbal nachts. Er installiert Telekommunikationsanlagen. Mit seiner Freundin, seinem Sohn oder bei der Arbeit hat er bisher noch nie über die Zeit in der Colonia Dignidad, der "Kolonie der Würde", gesprochen:
"Das ist meine Privatangelegenheit. Manche Dinge behält man besser für sich. Viele Menschen stigmatisieren andere. Damit mir das nicht passiert, spreche ich nicht viel darüber. Aber ich habe kein Problem damit, dass das in Deutschland erzählt wird. Diese Dinge sind ja passiert. Und es war hart."
Ein Krankenhaus dient als seriöse Fassade
Cristóbal wuchs bei seiner Familie in einem Dorf rund 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile auf. In der Nachbarschaft lag die "Villa Baviera", wie sich die Colonia Dignidad seit 1988 offiziell nennt. Jacquelines und Cristóbals Familie fühlte sich dieser deutschen Siedlung ursprünglich sehr verbunden:
"Das war wegen des Krankenhauses. Meine Eltern sind da schon hingegangen. Es hatte einen guten Ruf und war besser ausgestattet als die Krankenhäuser in der Umgebung."
Das Krankenhaus der Colonia Dignidad war das repräsentative Gesicht einer totalitären Sekte. Im Jahr 1961 gründete der freikirchliche deutsche Laienprediger und Jugendpfleger Paul Schäfer zusammen mit einigen Anhängern am Fuß der südchilenischen Anden die Colonia Dignidad. In Deutschland liefen zu der Zeit Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs gegen Paul Schäfer. Mit seiner Ausreise nach Chile entzog er sich der Strafverfolgung und der deutschen Justiz.
Angekommen in Chile ließen Paul Schäfer und seine Getreuen die Siedlung als Wohltätigkeits- und Erziehungseinrichtung registrieren. Die Siedlung wurde vom chilenischen Staat als wohltätig und gemeinnützig anerkannt und genoss dadurch Zoll- und Steuervergünstigungen. Bei vielen Chilenen besaßen die Deutschen einen Vertrauensvorschuss. Sie galten als sauber, korrekt und effizient. Der Anwalt Hernán Fernández:
"Im Krankenhaus der Colonia wurden zwar Patienten behandelt und geheilt. Dort wurden aber auch Menschen mit Elektroschocks gequält, gefoltert und misshandelt."
Sektenmitglieder, die versuchten zu fliehen oder sich Anordnungen widersetzt hatten, wurden dort monatelang mit zwangsweise verabreichten Psychopharmaka ruhig gestellt. Der Alltag der meisten der etwa 300 Bewohnerinnen und Bewohner der Colonia Dignidad war von Anfang an durch systematischen sexuellen Missbrauch und sklavenartige Arbeitsverhältnisse geprägt.
Engste Zusammenarbeit mit der Pinochet-Diktatur
Während der Pinochet-Diktatur ab 1973 kooperierte die Führung der Colonia Dignidad außerdem eng mit den chilenischen Militärs und dem Geheimdienst DINA, der Dirección de Inteligencia Nacional. Dieser richtete hier seine Operationsbasis im Süden Chiles ein. Bereits 1977 veröffentlichte Amnesty International erste Berichte von Überlebenden der Folter in der Colonia Dignidad. Nach Zeugenaussagen von Bewohnern der deutschen Siedlung wurden in den 1970er-Jahren Dutzende Gefangene auf dem Gelände ermordet, in Massengräbern vergraben, ihre Leichen später wieder ausgegraben und verbrannt. Da ihre Leichen nie gefunden wurden, gelten sie als "Verschwundene". Bis heute ist das Schicksal dieser Menschen ungeklärt, weiß Anwalt Hernán Fernández:
"Das Krankenhaus der Colonia Dignidad erhielt - genau wie öffentliche Krankenhäuser - staatliche Subventionen. Allerdings berechnete der Leiter des Krankenhauses, Hartmut Hopp, auch Leistungen für Menschen, die gar nicht behandelt wurden. Recherchen der Polizei ergaben, dass auch Behandlungen an bereits verstorbenen Patienten abgerechnet wurden."
1991, nach dem Ende der Diktatur unter Pinochet, erkannte die chilenische Regierung der Colonia Dignidad ihren rechtlichen Status der Gemeinnützigkeit ab. In der Folge wurden auch die staatlichen Zahlungen an das Krankenhaus eingestellt. Doch die Führung der deutschen Siedlung schaffte es, Männer, Frauen, ganze Familien in der Region für sich zu mobilisieren. Nur wer sich in sogenannten Patientenkomitees organisierte, wurde weiterhin im Krankenhaus der Sekte behandelt.
Mitte der 1990er-Jahre baute die Colonia-Führung mit Menschen aus der Umgebung auch eine zivile Schutztruppe zur Verteidigung der deutschen Siedlung auf, die sogenannte "Vigilia Permanente". Diese und die Patientenkomitees demonstrierten auch öffentlich für den Erhalt der Siedlung und des Krankenhauses. Über den Jugendableger der Vigilia Permanente holten die Deutschen auch die Kinder aus den umliegenden Dörfern an den Wochenenden in die Colonia. Unter ihnen: Cristóbal.
"Ein Jahr lang war ich oft übers Wochenende da. Und danach war ich dann vier oder fünf Monate durchgehend da drinnen. Ich war in dem 'Intensiv-Internat'", sagt Cristóbal. Seine Mutter ergänzt:
"Sie sagten uns, dass ein paar der Kinder zum Lernen in der Colonia blieben. Dass sie in der Schule besser werden und Deutsch lernen würden. Cristóbal war etwas chaotisch in der Schule, er hat nicht gerne gelernt. Als ich dann noch ein Kind bekam, haben wir ihn zum Lernen in die Colonia gebracht. Hätte ich gewusst, was das bedeutet, hätte ich nicht zugestimmt."
Psychopharmaka sollen die Jungen gefügig machen
Denn ab dem Moment war Cristóbal der Willkür des Sektenchefs Paul Schäfer und der Colonia-Führung ausgeliefert.
Zum "Bildungsprogamm" gehörte auch die sogenannte Hymne der Colonia Dignidad. Paul Schäfer ließ sich darin als Führer besingen. Sonst ließ er sich als "Tío permanente", als "Ewiger Onkel" ansprechen, oder auch nur als "ER". Schäfers Namen kannte Cristóbal damals gar nicht.
Jaime Parra war wie Cristóbal Parada im sogenannten Internat der Colonia Dignidad. Er war etwas jünger und wuchs ein paar Dörfer entfernt von Cristóbal auf, ihre Familien kannten sich. Heute lebt auch er in Santiago de Chile, mit seiner Frau und zwei Kindern. Er arbeitet in einer Sicherheitsfirma. Vor seinen Arbeitskollegen und seinen Nachbarn spricht der heute 32 Jahre alte Jaime nicht über seine Erfahrungen. Er wirkt zurückhaltend, ist gut gekleidet im Anzug, als ich ihn an einem neutralen Ort treffe. Er berichtet mir davon, was er zwischen 1995 und 1997 im sogenannten "Internat" der Colonia Dignidad erlebt hat.
Drei Stunden pro Tag hatten sie meistens eine Art Unterricht bei einem sogenannten "Tutor".
"Danach oder oft auch schon ab acht Uhr morgens mussten wir Kinder den ganzen Tag lang arbeiten: Mal mussten wir Steine schleppen, mal eine Woche lang heiße Bewässerungsrohre auf unseren Schultern transportieren. Meine Schultern waren ganz verbrannt davon. Angeblich war das ein Internat, in dem wir etwas lernen sollten. Eine Schule haben wir aber nie gesehen."
Er schlief im sogenannten "Kinderhaus", in einem kleinen Zimmer war er mit einem deutschen Erwachsenen untergebracht, der ihn bewachen sollte.
"In der Colonia habe ich Medikamente bekommen. Zum ersten Mal bekam ich die Tabletten von Doktor Hopp. Er hat mit Schäfer auf Deutsch gesprochen und sie mir verordnet. Auf Spanisch hat er zu mir gesagt: 'Von jetzt an musst du das nehmen, damit es dir besser geht.' Ich dachte noch: 'Aber wenn ich mich doch nicht schlecht fühle – es geht mir doch gut.' Doch, ich sollte das nehmen. Und zwar jeden Tag."
Wie viele deutsche Mitglieder der Sekte und die anderen chilenischen Jungen musste auch Jaime regelmäßig Psychopharmaka nehmen. Manchmal sollte er einen Apfelsaft trinken, der ihn schläfrig machte. Oder er bekam Tabletten – immer direkt in die Hand. So konnte er nie eine Verpackung oder einen darauf gedruckten Namen sehen.
"Sie schmeckten sehr bitter. Die Zunge wurde taub davon. Ich mochte das nicht. Sie sollten mich gefügig machen, und ich wurde dadurch zu einer Maschine. Ich gehorchte ohne jeden Widerstand. Ich konnte nicht sprechen, es war wie mit offenen Augen zu schlafen. Vor dem Einschlafen musste ich immer die Tabletten nehmen. Dann kam jemand und brachte mich zu Schäfer. Ich erinnere mich, dass ich die Medikamente genommen habe und erst viel später in Schäfers Zimmer wieder zu mir kam. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper, wusste aber nicht, was passiert war."
"Er war wie ein Raubtier"
"Paul Schäfer beging sexuellen Missbrauch an drei, vier oder noch mehr Jungen pro Tag. Er war wie ein Raubtier und auf eine Art zwanghaft. Er ordnete an, einen Jungen um Mitternacht oder im Morgengrauen zu wecken und zu ihm zu bringen, danach noch einen anderen Jungen und so weiter. Geholfen haben ihm dabei Leute aus dem Führungskreis der Sekte." Ohne deren Mitwirkung hätte das System der Colonia Dignidad nicht bestehen können, betont der Anwalt Hernán Fernández.
"Hopp hat die Jungen gezielt auf Paul Schäfers Missbrauch vorbereitet. Die Psychopharmaka, die er ihnen persönlich verschrieb und gab, hatten keinen anderen Sinn, als das Bewusstsein der Jungen zu trüben. Und er war dort. Er sah sie einen nach dem anderen in Schäfers Zimmer hinein- und wieder herausgehen, wissend zu was sie da hinein gingen."
Das Machtsystem Colonia Dignidad konnte sich jahrzehntelang halten, weil die Bewohnerinnen und Bewohner permanenter Kontrolle unterworfen waren. Eingesperrt, praktisch ohne Außenkontakte. Ohne Zeitung, Radio, Fernsehen. Und es gab keine Möglichkeit, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Familien lebten getrennt, Kinder kannten ihre Eltern nicht, Männer und Frauen durften sich nirgends begegnen. Mitte der 1980er-Jahre wurde in der Sekte jahrelang kein einziges Kind mehr geboren. Auch deshalb besorgte Schäfer sich einheimische chilenische Jungen zum Ausleben seiner sexualisierten Gewalt.
"Mit einer Art Gehirnwäsche sollten auch deren Bindungen an die Herkunftsfamilien zerstört werden. Cristóbal war eine Ausnahme. Er war nur kurze Zeit in der Colonia Dignidad und widersetzte sich. Er wollte nicht so sein wie die Deutschen. Er wollte weiter der chilenische Junge bleiben, der gerne Fußball spielte."
"Ich sollte Deutsch lernen. Aber weil ich so eine Abneigung gegen all das hatte, was mir angetan wurde, wollte ich nur weg von dort. Von Anfang an, als ich da bleiben musste, hat es mir nicht gefallen."
Ein Zettel, auf dem Klo geschrieben, bringt alles ans Licht
Cristóbals Zweizeiler, unbeobachtet auf dem Klo geschrieben und nach draußen geschmuggelt, läutete das Ende der Colonia Dignidad ein. Der Anwalt hat eine Kopie davon und liest: "Mir passieren hier Sachen, der Onkel, der ewige Onkel … vergewaltigt mich"
"Bis vor dem Klo haben sie uns überwacht", sagt Cristóbal. "Aber weil es darin so eng war, passte niemand zusätzlich mit mir hinein. Wenn das aufgeflogen wäre, hätten sie mich durchgeprügelt. Dann habe ich ihn einem der anderen chilenischen Jungen gegeben, der abends wieder nach Hause gehen konnte. Ich habe ihm gesagt: 'Hier, nimm das und bring es meiner Mutter.'"
"Als seine Mutter habe ich sofort gehandelt: 'Nein, das reicht'", so Jacqueline. "Denn ich überlege nicht erst lange 'Kann das sein? Oder ist es vielleicht gar nicht wahr?' Bei den Deutschen musste ich sehr schlau vorgehen und meine Wut im Zaum halten. Ich sagte, dass ich Cristóbal abholen muss, weil er sich mit seinem Vater in Santiago trifft."
Mit List schaffte es Jacqueline, die Villa Baviera mit ihrem Sohn zu verlassen. Den Behörden in der Umgebung der Villa Baviera traute sie nicht. Sie wusste, dass diese Leute regelmäßig zu Feiern in die Villa Baviera eingeladen waren. Und dass Schäfer sehr schnell davon erfahren würde, wenn sie zu einer Polizeistation in der Nähe ginge. Jacqueline erstattete deshalb Anzeige bei einer als unbestechlich geltenden Einheit der zivilen Kriminalpolizei in Santiago. So wurden dort die polizeilichen Ermittlungen aufgenommen und die Colonia-Führung erfuhr erst viel später davon.
"Dabei ging es um eine kriminelle Organisation: Die Colonia Dignidad war wirklich ein Staat im Staat", erklärt Hernán Fernández. "Sie haben die ganze Umgebung kontrolliert und Angst verbreitet. Auf den staubigen Landstraßen, in den Dörfern der Gegend patroullierte nicht die chilenische Polizei. Sondern die Gruppen der Colonia, mit Motorrädern, Flugzeugen, Pick-Ups und ihrem Mercedes Benz."
Für Jacqueline war das Schlimmste, dass ihre Eltern, Cristóbals Großeltern, bedrängt und bedroht wurden. Mitglieder der Colonia boten Geld, um Jacqueline zu stoppen und die Anzeige zurückzuziehen. Flugzeuge der Colonia flogen im Tiefflug über das Haus von Jacquelines Eltern. Ihre Mutter wurde sehr krank. Jacqueline selbst wurde bei der Arbeit belästigt und von ihren Nachbarn beschimpft. Während der ersten richterlich angeordneten Durchsuchung der Villa Baviera im November 1996 war der damals 10 Jahre alte Jaime Parra noch in der Villa Baviera:
"Am Tag vorher sagte uns jemand auf Spanisch: 'Morgen kommen die Hunde vom Fünften Dezernat, von der Kripo aus Santiago, zu einer Durchsuchung. Wir werden früh aufstehen und eine Runde drehen.' Tatsächlich weckten sie uns um fünf Uhr morgens. Sie brachten uns auf einem Geländewagen in die Berge, wo es keine Wege mehr gibt. Wenn ein Flugzeug oder ein Hubschrauber über uns hinweg flog, mussten wir uns auf die Erde legen und sie deckten uns zu, damit uns niemand sehen konnte."
Sektenchef Paul Schäfer versteckt sich
Auch Jaimes Mutter, Rosa Verdugo, schaffte es später, ihren Sohn aus der Colonia Dignidad herauszuholen. Nach und nach kamen weitere Jungen frei, insgesamt waren es elf. Paul Schäfer wurde bei keiner der polizeilichen Durchsuchungen angetroffen. Zuerst versteckte er sich auf dem Gelände der Siedlung, bevor er 1997 nach Argentinien floh, wo er acht Jahre lang unentdeckt leben konnte.
Erst im März 2005 spürte ihn ein Team von Journalisten mit Unterstützung des Anwalts Hernán Fernández auf. In Chile wurde er wegen Mord, Missbrauch an Kindern und Verstoß gegen das Waffengesetz zu einer Haftstrafe von insgesamt zwanzig Jahren verurteilt. Er starb im Jahr 2010 nach fünf Jahren Haft im Gefängnis in Santiago.
Nach der Flucht von Paul Schäfer änderte sich aber erst mal wenig an der Situation in der Villa Baviera und in deren Umgebung.
Jaime Parra lebte nach seiner Befreiung aus der Colonia 1997 noch zehn Jahre in der Region. Erst bei seiner Mutter, dann bei seiner Großmutter. Sein Jahr in der Colonia wurde ihm nicht als Schulzeit anerkannt. Er ging auf drei verschiedene Schulen. Überall wurde er bedroht und diskriminiert.
"Alle in meiner Umgebung waren Sympathisanten der Colonia. Für sie war ich der Verräter, der Schwule. In der Schule nannten sie mich nicht Jaime, sondern 'Paul Schäfer'. Sie verfolgten mich auf dem Nachhauseweg. Einmal versuchte jemand, mich mit einem Auto zu überfahren. Ich konnte mich nur durch den Sprung in eine Brombeerhecke retten."
Jahrelang hatte er Entzugserscheinungen von den Psychopharmaka, die ihm in der Colonia verabreicht worden waren.
"Kalte Schweißausbrüche, Zittern. Ein, zwei, drei Jahre lang. Ich konnte mich im Unterricht nicht konzentrieren. Die Schule habe ich nicht beendet. All die Jahre habe ich mit niemandem über dieses Thema gesprochen. Bis heute trage ich diese Last allein. Man kann nicht von einem Tag auf den anderen die Angst vergessen, den Terror, unter dem wir jahrelang gelitten haben. Ich musste mich in meinem eigenen Land verstecken."
Sektenarzt Hartmut Hopp bleibt in Deutschland straffrei
Am Ende eines langen Prozesses fällte der Oberste Gerichtshof Chiles 2013 sein Urteil. Mehrere Führungsmitglieder der Colonia Dignidad wurden wegen Beihilfe zur Vergewaltigung, manche auch wegen Kindesentführung zu Gefängnisstrafen verurteilt. In Chile sitzt heute nur noch ein einziger der Verurteilten in Haft. Der frühere Sektenarzt Hartmut Hopp wurde wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch zu fünf Jahren Haft verurteilt, entzog sich aber dieser Strafe, indem er nach Deutschland ausreiste. Als deutscher Staatsbürger wird er nicht nach Chile ausgeliefert und muss auch in Deutschland keine Haftstrafe verbüßen, da in dem chilenischen Urteil keine "konkreten dienlichen Handlungen" nachgewiesen worden seien, so das zuständige Oberlandesgericht Düsseldorf. Betroffene wie Jaime sind fassungslos.
"Erst jetzt fange ich an, mit der Presse darüber zu sprechen. Es ist einfach nötig. Weder mein Land noch Deutschland haben mir geholfen. Die Leute von der Deutschen Botschaft fahren nur in die Colonia. Mich hat nie jemand gefragt, wie es mir geht. Wir kämpfen noch immer um Entschädigung von der Colonia Dignidad."
Die Villa Baviera wurde zu Entschädigungszahlungen von insgesamt etwa anderthalb Millionen Euro an die chilenischen jungen Männer verpflichtet. Bekommen haben diese bisher aber nichts, obwohl die Villa Baviera nach wie vor existiert und wirtschaftlich funktioniert. Ihr Anwalt Hernán Fernández ist empört:
"Dass die neue Führungsriege der Colonia Dignidad die Zahlungen verweigert, ist verlogen. Diejenigen, die jetzt hohe Gehälter beziehen und die neuesten Autos fahren, würden noch heute in diesem Sklavensystem leben, wenn sie nicht mit Hilfe dieser chilenischen Kinder befreit worden wären."
Wann endlich gibt es Entschädigung?
Zumindest haben Jaime Parra und Cristóbal Parada nun möglicherweise eine Chance auf Unterstützung aus Deutschland. Gerade hat die Bundesregierung einen Hilfsfond für Opfer der Sekte eingerichtet. Die Kosten für Gesundheitsbehandlungen und Therapien für deutsche und chilenische Staatsangehörige, die in der Colonia Dignidad gelebt haben, sollen bis zu 10.000 Euro übernommen werden. Details bleiben abzuwarten.
Eigenständige Ermittlungen der deutschen Justiz wurden im Mai schließlich auch eingestellt. Dagegen hat die Anwältin der Opfer Beschwerde eingelegt. Sie fordert weitere Ermittlungen der deutschen Justiz gegen Hartmut Hopp und stützt sich dabei auf die Aussagen der jungen Chilenen, die hier zu Wort kamen.