Die Aufarbeitung - eine schwere und langwierige Aufgabe
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Während die katholische Kirche zahlreiche Missbrauchsskandale aufarbeitet, wird auf evangelischer Seite wenig über das Thema gesprochen – obwohl auch hier Fälle bekannt sind. Beim Evangelischen Kirchentag griffen Betroffene die Kirchenspitze an.
Vor neun Jahren brachten Betroffene den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ans Licht. Vor nicht einmal einem Jahr beschäftigte sich die evangelische Kirche erstmals etwas prominenter mit sexualisierter Gewalt in ihren Reihen: Bei der EKD-Synode in Würzburg im Herbst 2018. Viel zu spät, bagatellisierend, tabu-behaftet – kritisieren Betroffene bei einer Veranstaltung zum Thema Missbrauch auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund.
Missbrauch nur bei den Katholiken?
Kerstin Claus wurde als Jugendliche über Jahre hinweg von einem evangelischen Pfarrer missbraucht. Die Kirchenspitze habe solche Fälle zu lange ignoriert, auch der EKD-Ratsvorsitzende:
"Natürlich sehe ich auch, dass Herr Bedford-Strohm sagt: null Toleranz mit Tätern und Mitwissern. Gleichzeitig kritisiere ich, dass Herr Bedford-Strohm diese Aussagen sehr spät getroffen hat. Sie kamen zur Synode 2018, sie hätten in meinen Augen viel, viel früher fallen müssen. Und hier muss man auch immer wieder nachfragen, wie unterstützen Sie denn?"
Lange hieß es unter Protestanten hinter vorgehaltener Hand: Missbrauch, das ist vor allem ein Problem der katholischen Kirche. Ein Trugschluss: Auch im evangelischen Raum sind seit den 50er-Jahren mehrere hundert Fälle belegt – auch wenn es hier keinen Zölibat für Pfarrer gibt und die Sexualmoral insgesamt liberaler scheint.
Kirchenbürokratie verschleppt Aufarbeitung
Die Betroffene Kerstin Claus berichtet, wie zögerlich ihr eigener Fall in der bayerischen Landeskirche aufgearbeitet wird: Die Bürokratie verweise von A nach B, es fehle an Verantwortungsbewusstsein und Einfühlungsvermögen. Das sagen auch andere Betroffene.
"Die evangelische Kirche hat aus meiner Sicht Nachholbedarf", erklärt Kerstin Claus. "Die katholische Kirche steht seit 2010 massiv unter Druck. Das sind Erfahrungsprozesse, die in der katholischen Kirche gelaufen sind – adäquate Sprache, Umgang mit Betroffenen – da gibt es in der evangelischen Kirche im Moment noch sehr viel Improvisation, wo im katholischen Bereich schon klarere Strukturen auch der Beteiligung gelungen sind."
Die EKD hat sich lange weggeduckt, gesteht der frühere Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider:
"Ich frag mich natürlich selber auch immer: Was hast du falsch gemacht? Keine Frage, ich war da nicht der Held. Wenn man in den leitenden Organen zusammensitzt, dann war schon immer der Ton: Leute, glaubt nicht, dass das nur ein katholisches Problem ist, das ist auch unser Problem. Aber ich muss sagen, mit so einem Unterton: Bei der Sexualmoral der Katholiken – ist ja auch kein Wunder. Wir haben uns durchaus bemüht, aber in mancher Hinsicht war es einfach auch armselig."
Keine klaren Verantwortlichkeiten
Die evangelische Kirche sei von unten nach oben organisiert, da gehe es eben langsam voran, rechtfertigt Nikolaus Schneider. Kerstin Claus hält dagegen:
"Von unten nach oben – Sie könnten die gleiche Antwort, Herr Schneider, nicht geben, ginge es um Brandschutz, weil dann gibt es klare Regeln. Wenn ich Brandschutzkonzepte sehe, dann müssen Verbindlichkeiten eingehalten werden. Und ja, dann ist man tatsächlich als Gemeinde darüber auch rechenschaftspflichtig."
Jetzt wollen es die Protestanten besser machen, zumindest einige. Die sexualisierte Gewalt in den eigenen Reihen soll nicht länger verschwiegen werden. Beim Gottesdienst, der den Kirchentag eröffnet, ist der Missbrauch Thema: "Du bist ein Pastor, du bist ein Soldat. Ich habe dir vertraut, du hast mein Vertrauen missbraucht", hieß es dort.
Nur mit Betroffenen sei Aufarbeitung möglich
Aber es bleiben blinde Flecken: Der Reformpädagoge Gerold Becker, Haupttäter an der Odenwaldschule, war in den 70er- bis 90er-Jahren Stammgast auf Kirchentagen und einige Zeit Mitglied in dessen Präsidium. Wir werden die Rolle Beckers recherchieren, lassen die Veranstalter recht allgemein verlauten.
Auffällig auch, dass auf dem Kirchentagspodium zu sexualisierter Gewalt laut gedrucktem Programm ursprünglich kein Gespräch mit Betroffenen vorgesehen war. Es sollte nur über sie gesprochen werden, bestätigt Kerstin Claus. Sie sei erst nach Drucklegung des Programms angefragt worden:
"Es verstehen nicht alle von vornherein, dass es diesen Austausch im Miteinander ‚Betroffene und Kirchenvertreter‘ braucht. Und da hat Kirsten Fehrs ganz deutlich gesagt: Ohne Betroffene kann das nicht funktionieren."
Risikofaktoren auch in evangelischer Kirche
Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs ist Beauftragte der EKD für den Schutz vor sexualisierter Gewalt. Sie geht mit ihrer Kirche hart ins Gericht und sagt auch auf dem Kirchentagspodium: In der evangelischen Kirche gibt es Risikofaktoren, die Missbrauch begünstigen.
"Das nette Vereinsstrukturelle, das ist ein Thema. Dass die Kontrollfunktionen deshalb nicht funktionieren, weil die Leute oft in ihren Verantwortlichkeiten nicht klar sind. Das andere ist: Es gibt im Kontext derer, die tätig sind, ehren- wie hauptamtlich, so etwas Verschwiemeltes, was schnell so ein Schweigekonsortium herstellt."
Und der Vertrauensvorschuss, den evangelische Pfarrer bekommen, ist weiterhin groß – was Täter ausnutzen können. Vor einigen Monaten beschloss die EKD-Synode einen sogenannten Handlungsplan. Im Juli eröffnet die Kirche eine unabhängige zentrale Anlaufstelle. Die Betroffenen sind allerdings verhalten, ob die Leitenden in der evangelischen Kirche den beschworenen Mentalitätswandel tatsächlich vollziehen, sagt Detlef Zander vom Netzwerk Betroffenenforum:
"Wer kontrolliert das von der Evangelischen Kirche Deutschland, ob Prävention überhaupt gemacht wird? Diese nette oder süße Vereinsstruktur, die die EKD nun mal hat. Ich hab immer das Gefühl, man liebt sich so, und wir duzen uns alle. Ich wünsche mir, dass von ganz oben die Strukturen geändert werden, sonst ist diese ganze Präventionsgeschichte, die wir immer diskutieren, nur eine sogenannte Alibifunktion."
Tabuisierung müsse aufgebrochen werden
Zander hat zumindest Bischöfin Fehrs auf seiner Seite. Natürlich seien Konzepte nötig, um sexualisierter Gewalt vorzubeugen, sagt die Missbrauchsbeauftragte:
"Aber viel entscheidender ist, dass wir von der Leitungsebene an diese Tabuisierung aufbrechen. Dass wir von der Leitungsebene an bis in die Kirchengemeinde begriffen haben, was es bedeutet für Menschen, wenn Grenzen verletzt werden. Das ist mehr als ein Zehn-Punkte-Plan, das ist eine Haltungsfrage: Raus aus der Tabuisierung", fordert die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs
Es geht also darum, an vielen Orten Mentalitäten und Strukturen zu verändern – die evangelische Kirche steht vor einer schweren, langwierigen Aufgabe.