Sieben bis acht Millionen Betroffene in Deutschland
Heute beginnt die Unabhängige Missbrauchskommission mit Opferanhörungen. Der ehemalige Canisius-Schüler Matthias Katsch warnt davor, sexuelle Gewalt gegen Minderjährige als Erscheinung der Vergangenheit zu betrachten. Es geschehe auch "hier und heute".
Matthias Katsch, ehemaliger Schüler am Canisius-Kolleg, fordert von der Unabhängigen Missbrauchskommission die Aufdeckung gesellschaftlicher und institutioneller Strukturen, die Missbrauch begünstigen.
Man dürfe nicht dabei stehen bleiben, Beispiele für Missbrauchsgeschichten zu hören und wahrzunehmen, sondern es müsse auch über Verantwortlichkeiten auf allen Ebenen gesprochen werden, mahnt Katsch. "Im Umfeld, in der Institution und in der Gesellschaft, damit diese Taten tatsächlich in der Zukunft weniger werden".
Sexuelle Gewalt kein Einzelschicksal
Denn sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sei kein Einzelschicksal, sondern "ein gesellschaftlicher Skandal, von dem sieben, acht Millionen in diesem Land betroffen sind, die in ihrer Kindheit und Jugend als Jungen und Mädchen diese Erfahrung sexueller Gewalt gemacht haben".
Auch sei Missbrauch keine Sache der Vergangenheit, sondern geschehe auch "hier und heute", so Katsch weiter. "Für diese Kinder und Jugendlichen müssen wir etwas tun. Und das tun wir dadurch, dass wir die Opfer ernstnehmen, ihnen signalisieren, wir glauben euch, wir wollen es wirklich wissen und dann die Konsequenzen daraus ableiten." (uko)
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Sexueller Missbrauch von schutzbefohlenen Kindern, Behinderten in Heimen, Schulen, Kirchengemeinden – darüber wissen wir inzwischen mehr als in all den Jahren, als der Mantel des Schweigens über solche Taten gedeckt wurde. Auch und gerade in kirchlichen Einrichtungen. Das katholische Berliner Canisius-Gymnasium war so ein Ort, an dem Schüler Missbrauch erleiden mussten.
Matthias Katsch war einer von ihnen, er hat aber 2010 angefangen, öffentlich darüber zu sprechen, und auch dafür gekämpft, am runden Tisch teilzunehmen. Er ist im Betroffenenrat der Bundesregierung aktiv und hat sich seit 2012 intensiv dafür eingesetzt, dass die Aufarbeitung weitergeht. Er ist auch Berater der unabhängigen Missbrauchskommission, die heute bundesweit und dezentral in geschützten Räumen tagt. Und jetzt ist er am Telefon, schönen guten Morgen, Herr Katsch!
Matthias Katsch: Schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Was wurde denn bisher in Sachen Aufarbeitung erreicht?
Katsch: Wir wissen viel mehr, als wir vor zehn, 15 Jahren wussten. Sie haben erwähnt, dass wir in vielen Institutionen, Kirchen, Gemeinden, Sportvereinen, anderen Einrichtungen, aber auch in vielen … ((Telefonverbindung wird gestört))
von Billerbeck: Herr Katsch, wir müssen noch mal anrufen, wir haben eine ganz schlechte Telefonleitung. Wir versuchen es gleich noch mal, ja?
Katsch: Ja, natürlich.
von Billerbeck: Danke schön.
((Musik))
Hoffen auf die Arbeit der Kommission
Heute tagt die unabhängige Missbrauchskommission, es geht darum, zu erforschen, wo sexueller Missbrauch verübt wurde an Kindern, an Behinderten, in Heimen, Schulen und Kirchengemeinden. Eine davon war das katholische Berliner Canisius-Gymnasium, ein Ort, an dem Schüler Missbrauch erleiden mussten. Matthias Katsch, einer von ihnen, Betroffener, der sich auch sehr für die Aufarbeitung engagiert, Herr Katsch, schönen guten Tag noch mal!
Katsch: Ja, hallo noch mal, jetzt ist es glaube ich besser.
von Billerbeck: Was leistet … Jetzt ist die Leitung besser, ja. Was leistet diese unabhängige Missbrauchskommission?
Katsch: Ich hoffe, dass sie auf drei Ebenen wirken kann. Natürlich auf der ersten Ebene ganz direkt mit den Menschen, die dort angehört werden, dass denen vermittelt wird – oftmals vielleicht zum ersten Mal –, wir, wir anderen, die Gemeinschaft, die Gesellschaft, wir glauben euch, wir nehmen das wahr, was euch widerfahren ist. Aber das alleine wäre natürlich zu wenig. Wir haben in den letzten sechs, sieben Jahren sehr viele Beispiele für Missbrauchsgeschehen gehört und wahrgenommen, aber wir müssen natürlich einen Schritt weiterkommen.
Wir müssen über Verantwortung sprechen auf einer institutionellen Ebene, wie war die Antwort vielleicht in der Vergangenheit oder eben was ist in der Vergangenheit gemacht oder nicht gemacht worden, wenn Missbrauch im Raum stand, wie wurde geholfen oder nicht geholfen, wie wurde aufgedeckt oder nicht aufgedeckt, verdeckt. Und schließlich auf einer gesellschaftlichen Ebene müssen wir uns darüber unterhalten, dass sexuelle Gewalt eben kein individuelles, persönliches Einzelschicksal ist, sondern, ja, ein gesellschaftlicher Skandal, von dem sieben, acht Millionen Menschen in diesem Land betroffen sind, die in ihrer Kindheit und Jugend als Jungen und Mädchen diese Erfahrung sexueller Gewalt gemacht haben. Also, auf diesen drei Ebenen muss die Kommission wirken.
Es geht nicht um "Ersatzstrafverfolgung"
von Billerbeck: Sie wissen ja, wie schwer das ist, Sie haben sich ja selber als Opfer da geäußert, haben das publik gemacht, was Ihnen widerfahren ist. Das heißt, es geht viel weniger darum, einzelne Täter aufzuzeigen und mit dem Finger auf sie zu zeigen, sondern klarzumachen, in welchem Umfeld das passiert ist, und die Umstände auszuräumen, dass es nicht mehr passiert?
Katsch: Das ist letztlich in der Konsequenz das Ziel. Es ist jetzt keine Ersatzstrafverfolgung, wir können nicht nach 30, 40 Jahren jetzt versuchen, das zu heilen, was eben schiefgegangen ist in der Vergangenheit, als wir Täter viel zu leicht haben davonkommen lassen. Das wird die Kommission nicht tun müssen, tun können, sondern was sie muss, ist, tatsächlich diese Verantwortung herauszuarbeiten auf allen Ebenen, im Umfeld, in der Institution und in der Gesellschaft, damit diese Taten tatsächlich in der Zukunft weniger werden.
Denn das ist leider auch so: Wenn man Aufarbeitung hört, dann denkt man immer, wir reden über etwas, was lange vergangen ist. Nein, sexuelle Gewalt geschieht auch hier und heute. Und für diese Kinder und Jugendlichen müssen wir etwas tun, und das tun wir dadurch, dass wir die Opfer ernst nehmen, ihnen signalisieren, wir glauben euch, wir wollen es wirklich wissen, und dann die Konsequenzen daraus ableiten. Das ist das, was ich hoffe, was die Kommission leisten kann.
Missbrauch in vielen Fällen "grausliche Normalität"
von Billerbeck: Nun gibt es ja auch Stimmen, die sagen, nach den vielen Veröffentlichungen, die es gegeben hat, wir wissen jetzt Bescheid, wir glauben, es ist alles klar, das kann nicht mehr passieren, ist jetzt nicht mal gut!
Katsch: Das hört man, das kann man auch verstehen, so eine gewisse Abwehr. Tatsache ist aber, wir wissen viel zu wenig. Wir stehen immer noch sprachlos davor, in der letzten Woche wieder ein Bericht aus einer hessischen Grundschule, wo über Jahre, Jahrzehnte hinweg ein Lehrer Kinder missbrauchen konnte, und niemand hat etwas bemerkt, niemand hat etwas wahrgenommen, niemand hat reagiert.
Das macht sprachlos und stellt wiederum die Frage, was läuft in Institutionen schief, dass Täter so vorgehen können, dass Opfer so wenig gesehen werden? In welchem Umfeld geschieht sexuelle Gewalt, dass es uns nicht auffällt, dass wir es nicht bemerken? Also, ich glaube, wir haben nicht zu viel über das Thema gesprochen, sondern wir sind eigentlich erst dabei, eine gewisse Normalität im Umfang mit dem Thema zu entwickeln.
Das Skandalhafte, das stand 2010 sehr stark im Vordergrund, das habe ich also auch erlebt in meinen Kontakten mit Menschen, wenn ich darüber gesprochen habe. Aber es ist leider eine grausliche Normalität in vielen Fällen. Und das bedeutet, wir müssen mehr darüber reden, nicht weniger.
von Billerbeck: Das sagt Matthias Katsch, selbst Betroffener sexuellen Missbrauchs. Heute tagt die unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Ich danke Ihnen!
Katsch: Ich danke Ihnen, auf Wiederhören!
von Billerbeck: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.