Die Pressekonferenz dauert ohne Fragerunde etwa 40 Minuten. Kardinal Reinhard Marx spricht davon etwa 20. Er nimmt direkt Bezug auf einen Zweifel der Gutachter an seiner Rolle: Ob er die Missbrauchsfälle wirklich zur Chefsache gemacht habe?
„Der Umgang mit Missbrauch in der Kirche war und ist für mich Chefsache und steht nicht im Gegensatz zum Verkündigungsauftrag. Ich war und bin nicht gleichgültig. Hätte ich noch engagierter handeln können? – Sicher ja.“
Der "Eckige Tisch" ist nicht überzeugt
Kardinal Marx übt sich in Selbstkritik und spricht von einem tiefen Einschnitt in der Geschichte des Bistums. Er sei erschüttert über die Erkenntnisse. Das Gutachten sei kein Ende der Aufarbeitung, sondern ein Baustein. Agnes Wich von der
Betroffenenorganisation „Eckiger Tisch“ überzeugt diese Rede nicht.
„Meines Erachtens gibt es dergestalt nichts Neues, dass diese Rede eine Ausweitung der Rede vergangener Woche ist, mit einigen Ergänzungen – und es ist fraglich, wie weit diese Ergänzungen wirklich konsequent durchgeführt werden", kritisiert sie.
Etwa zur Forderung des "Eckigen Tisches" nach höherer Entschädigung habe Marx nichts gesagt. Wich meint:
„Da wurde elegant darüber hinweggegangen. Denn die Lebenssituationen von Betroffenen sind zum Teil desolat. Und Täter und Vertuscher sind bestens versorgt bis an ihr Lebensende.“
Und doch gibt es eine konkrete Neuigkeit, nämlich zu einem hochrangigen Mitarbeiter von Marx, dem 66 Jahre alten Prälaten und Kirchenrichter Lorenz Wolf.
"Prälat Wolf, der als Offizial im Gutachten stark kritisiert wird, habe ich geschrieben. Er hat mir mitgeteilt, dass er alle seine Ämter und Aufgaben ruhen lassen will. Damit bin ich einverstanden. Er will zu gegebener Zeit Stellung nehmen.“
Gutachten benennt Fehlverhalten
Im Gutachten wird dem Offizial Wolf Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchstätern in mehreren Fällen vorgeworfen. Gegenüber der Deutschen Presseagentur äußerte sich Wolf nicht.
Den Gutachtern gegenüber sagte er, er habe Fälle, von denen er Kenntnis erlangt habe, sehr ernst genommen und auch dementsprechend bearbeitet.
Die katholische Kirche ist nach Überzeugung von "taz"-Chefredakteurin Ulrike Winkelmann selbst nicht in der Lage, die zahlreichen Missbrauchsfälle aufzuklären. Das habe sich in München wieder gezeigt: „Klar ist, dass die Hierarchen, die bis heute im Amt sind und die letzten Jahrzehnte im Amt waren, erkennbar ihre Aufgabe darin sahen, sich gegenseitig zu decken.
Das muss schlicht ein Ende haben“, sagte Winkelmann in unserer Sendung „Studio 9 - Der Tag mit…“
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An Reformen innerhalb der Institution glaubt die Journalistin allerdings nicht: Frauen herabzuwürdigen und mächtige Männer nicht zu kontrollieren, sei „Markenkern“ der katholischen Kirche.
Prälat Wolf betonte, Betroffene hätten von ihm "jede Unterstützung bekommen, die sie wollten", heißt es in der Studie. Dort steht auch, Wolf habe die Rechtmäßigkeit des Gutachtens und die Unabhängigkeit der Gutachter angezweifelt.
Eklatanter Fall von Wegschauen und Vertuschen
Für Agnes Wich vom "Eckigen Tisch" reicht Wolfs Schritt nicht aus, sagt sie: „Ein Amt ruhen zu lassen, heißt bei weitem noch nicht, von einem Amt zurückzutreten. Und solange man ein Amt ruhen lässt, hat man sicherlich auch noch genügend Möglichkeiten der Einflussnahme, um zu seinen Gunsten die Situation zu verändern.“
Als einen besonders eklatanten Fall von Wegschauen und Vertuschen des Bistums führt das Gutachten den Fall des Pfarrers H. an. Der wurde 1986 vom Amtsgericht Ebersberg wegen Missbrauchs an elf Jungen zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt. Das Bistum entsandte ihn gleich danach in die nächste Pfarrei, nach Garching an der Alz, wo er sich wieder in der Jugendarbeit engagierte.
Die Gemeinde ist gespalten
Das Entsenden nannte der inzwischen emeritierte Kardinal Wetter in einer Stellungnahme in dieser Woche als „objektiv falsch“ – ein Fehler, für den er sich entschuldige. Mindestens drei Missbrauchsvorwürfe zählt das Gutachten bei dieser Arbeitsstelle auf. Erst nach 21 Jahren, 2008, wurde Pfarrer H. aus Garching wegversetzt. Die Gemeinde selbst ist bis heute gespalten.
„Die einen wollen das vielleicht gar nicht mehr sehen, diese schlechte Seite, diese dunkle Seite. Und die anderen sehen sich konfrontiert und sind vor den Kopf gestoßen. Sodass hier einfach Gräben entstanden sind, die Freundschaften auch bedrohen. Innerhalb der Familie vielleicht sogar", sagt Georg Langschartner.
Sie wollen die Wahrheit wissen
Der pensionierte technische Angestellte hat mit anderen Garchinger Gemeindemitgliedern und mit dem jetzigen Pfarrer die
„Initiative Sauerteig“ gegründet. Sie wollen die Gemeinde wieder vereinen, und sie wollen die Wahrheit wissen, über die niemand im Dorf gesprochen hat.
Die Wahrheit herauszufinden, das ist gar nicht so einfach. Pfarrer H. war extrem beliebt in der Gemeinde. Außerdem hatte er laut dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" Freunde in der Lokalpolitik.
Sorge um die eigenen Kinder
Georg Langschartner sagt, er werde für seine Bemühungen um Aufklärung und Aufarbeitung bis heute angefeindet. Erst vor zwei Jahren und erst durch den Druck der Initiative bekam die Gemeinde beim Bistum heraus, dass es Vorwürfe gegen den ehemaligen Pfarrer H. gibt.
„Ich habe zum Beispiel drei Kinder. Die waren alle drei Ministranten", berichtet er. "Und wenn man das jetzt im Nachhinein betrachtet, bezierhungsweise, wie das damals an die Öffentlichkeit gelangt ist, da kommt man als Eltern schon ins Schlucken, da kommen einem schon Zweifel, und Fragen kommen da: War vielleicht mit unseren Kindern auch sowas?“
Die Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch“ befürchtet, dass Medien-Beiträge wie dieser bei anderen Opfern sexuellen Missbrauchs eigene Erinnerungen auslösen. Sie verweist auf ein unabhängiges Hilfetelefon, das Unterstützung in der jetzigen Situation anbietet.
Die Hotline-Nummer lautet 0800/2255530.
Man merkt in diesem Videointerview, wie dieser Gedanke auch jetzt noch in Georg Langschartner arbeitet. Seine Kinder, sagt er, hätten ihm glaubhaft versichert, sie seien nicht Opfer geworden. Andere Jugendliche und auch deren Eltern hätten dem Pfarrer blind vertraut.
Kinder aus prekären Verhältnissen als Opfer
„Der hat ein Händchen, sagt man bei uns, für Jugendliche gehabt. Er hat mit ihnen ganz locker gesprochen, in ihrer Sprache, sozusagen. Er hat sie begeistert und, ja, er hat sie auch in die Kirche gebracht.“
160 Messdienerinnen und Messdiener habe dieser Pfarrer in der Gemeinde rekrutieren können, mit Jugendgottesdiensten, Witzen in Predigten und doch einer seltsamen Autorität.
„Ich kenne natürlich nicht die Einzelheiten, wie er das gemacht hat. Aber zum Beispiel: Er hat auf jeden Fall Kinder oder Jugendliche ins Auge genommen, die vielleicht aus so prekären Familienverhältnissen gekommen sind. Wo vielleicht der Vater nicht mehr die Rolle gespielt hat in der Familie, die er vielleicht spielen hätte sollen.“
Er nennt sich weiterhin gläubiger Christ
Georg Langschartner hat mit dafür gekämpft, dass Kardinal Marx vergangenes Jahr persönlich zu einem Gottesdienst nach Garching gekommen ist und der gesamten Gemeinde von den Missbrauchsvorwürfen berichtet hat. Trotz dieser Erschütterung – Langschartner hält an seinem Glauben fest.
„Ich möchte mich schon als gläubigen Christen bezeichnen. Aber wie gesagt, also mit der Stelle im Glaubensbekenntnis: ‚Ich glaube an die heilige katholische Kirche‘ – da gibt’s mittlerweile schon Aussetzer.“
Marx betont: Der Amtsverzicht war ernst gemeint
Inzwischen hätten 80 Prozent der damaligen Ministranten in der Gemeinde keine Lust mehr auf die Kirche, schätzt Georg Langschartner. Das Gutachten sei lange fällig gewesen. Zeit sei es, dass sich nun auch die Kirche wandle.
Natürlich geht das nicht von heute auf morgen, aber langsam muss man sich hier Gedanken machen. Und nicht nur jetzt auf Bischofsebene, das muss von Rom kommen.
Georg Langschartner, "Initiative Sauerteig"
Von Rom kam zuletzt vor allem diese Entscheidung: Obwohl Kardinal Reinhard Marx im vergangenen Sommer zurücktreten wollte, entschied Papst Franziskus, Marx solle weiter im Amt bleiben.
Marx betonte in der Pressekonferenz erneut: „Ich klebe nicht an meinem Amt. Das Angebot des Amtsverzichts im letzten Jahr war sehr ernst gemeint.“
Nun wolle er sich aber nicht aus dem Staub machen. Wenn er hilfreich sein könne, wolle er weiter mithelfen, Missbräuche aufzuarbeiten, so der Kardinal.