Shakespeare der Geschichtsschreibung

Bekannt wurde er als Autor der "Kulturgeschichte der Neuzeit". Egon Friedell war aber nicht nur Historiker, sondern auch Schauspieler, Satiriker und Journalist. Der Literaturwissenschaftler Bernhard Viel betrachtet den historischen Kontext dieses prallen Lebens.
"Er war 45 Jahre alt und sah aus wie ein mit Elephantiasis behafteter Gymnasiast."

Schmeichelhaft ist diese "Verarbeitung" Egon Friedells in einem Roman von Jakob Wassermanns nicht. Friedell war ein gewichtiger Mann, der selbst die Hungerjahre des Ersten Weltkriegs ohne größere Gewichtseinbuße überstand.

1878 unter dem Namen Egon Friedmann als Sohn eines jüdischen Tuchfabrikanten geboren, ist er heute durch zwei Dinge in Erinnerung: durch seine große Kulturgeschichte des Altertums und der Neuzeit, ein Meisterwerk breitenwirksamer Historiographie, sowie durch die Umstände seines Todes. Als im März 1938 zwei SA-Männer in seiner Wiener Wohnung auftauchen, springt Friedell aus dem Fenster seines Schlafzimmers im dritten Stock, nachdem er einen Passanten noch höflich aufgefordert hat, beiseite zu treten.

Jetzt hat der Literaturwissenschaftler und Autor Bernhard Viel die überfällige Biografie Egon Friedells geschrieben. Ein pralles Leben ist zu besichtigen: Friedell promovierte über Novalis, wandte sich dann dem Kabarett und dem Journalismus zu, schrieb Glossen, Satiren, Theaterstücke, machte Karriere als Schauspieler, um sich schließlich dem Wirken als Privatgelehrter hinzugeben. Eine ungewöhnliche Lebensbahn, die auf manche irritierend wirkte. Kann ein "Schauspieler" große Geschichtswerke schreiben? Die "Kulturgeschichte der Neuzeit", 1927 erschienen, wurde ein gigantischer Bestseller und brachte Friedell auch in England den Ruf eines "Shakespeare der Geschichtsschreibung" ein.

Diese Biografie ist ein Buch der Kontexte – etwa 250 Namen listet das Personenregister auf. Die Situation der Doppelmonarchie um 1900, die jüdische Assimilation und der Antisemitismus, Fin de siècle und Wiener Moderne mit ihren Größen und Genies wie Hermann Bahr, Peter Altenberg, Karl Kraus, Otto Weininger, Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal, die Kaffeehauskultur und die Psychoanalyse, die Nachwirkungen der Romantik – sehr gelehrt und pointiert breitet Viel die Fakten und Einsichten aus, doch wo ist Friedell?

Seitenlang wird er kaum erwähnt, man hat ihn sich als Kreuzungspunkt all der Linien, Einflüsse, Horizonte zu denken. Oft erscheint die Verbindung der kulturgeschichtlichen oder politisch-historischen Ausführungen mit dem Leben dürftig ("über diesen Ereignissen war Friedell 60 Jahre alt geworden") – gewiss, es sind Tatsachen der Epoche, die wohl niemanden unberührt ließen.

Die Biografie pflegt einen eleganten Stil, ist aber doch streckenweise erzählerisch schwach geraten. Das Innenleben Friedells bleibt eine Leerstelle, sofern nicht etwa zitierbare Bekenntnisse aus Briefen vorliegen. Immerhin: "Das Gefühl der Demütigung und des Ausgesetztseins wird ihn verfolgen bis zum Schluss", heißt es im Kapitel über die schulischen Desaster, für die sich Friedell später mit der erfolgreichen Komödie "Goethe im Examen" revanchierte.

Freundlicher formuliert: Der Biograf ist vorsichtig. Er weiß, dass den Selbstauskünften Friedells, der sein Leben nach dem Muster Peter Altenbergs inszenierte und die Kunst beherrschte, "Schauspieler seiner selbst zu sein", oft nicht zu trauen ist. Wohl ein Grund dafür, dass Viel selbst eine reichhaltige "Kulturgeschichte" geschrieben hat, für die Friedell bisweilen bloß der Anlass scheint. Lesenswert ist das Buch allemal.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Bernhard Viel: Egon Friedell. Der geniale Dilettant. Eine Biographie.
Verlag C.H. Beck, München 2013, 352 Seiten, 24,95 Euro


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