Hamlet zwischen den Fronten
Eine zentrale Rolle bei der Shakespeare-Forschung spielt seit 1864 die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg trennte sich die Gruppe in zwei Sektionen - und wurde zum Kampffeld der ideologischen Konflikte zwischen Ost und West.
Dienstag, 2. Mai 1991, 19 Uhr 30. Wolfgang Stein, Moderator und Theaterkritiker des "Deutschlandsender Kultur", berichtet von den Shakespeare-Tagen in Weimar - eine Veranstaltung, die dort schon seit Jahrzehnten regelmäßig im April über die Bühne geht. Dennoch kann von Routine diesmal keine Rede sein. Denn es sind die ersten Shakespeare-Tage, die im wiedervereinigten Deutschland stattfinden. Die Begrüßungsworte, die auch im Radio zu hören sind, spricht Robert Weimann, Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, DSG.
Der DSG-Präsident ermuntert die Mitglieder in Ost und West, angesichts der staatlichen Vereinigung selbstbewusst in die Zukunft zu blicken – dabei jedoch die schmerzhafte Vergangenheit nicht aus den Augen zu verlieren.
"Und das Schwierige – und vielleicht das Schöne – kann sein, kann nur sein, wenn dieses Selbstbewusstsein es mit der Erinnerung aufnimmt, wenn das nicht opportunistisch verdrängt und vergessen wird, sondern wir unserer vergangenen Arbeit aufrechten Blicks entgegensehen."
Die Geschichte der DSG reicht deutlich weiter zurück als bis in die Zeit des Kalten Krieges. Sie beginnt im Frühjahr 1864 mit einer Initiative des Dessauer Industriellen Wilhelm Oechelhäuser. Oechelhäuser ist ein glühender Verehrer William Shakespeares. Gemeinsam mit Franz Dingelstedt, Intendant am Weimarer Hoftheater, sowie einigen Privat- und Universitätsgelehrten gründet Oechelhäuser am 23. April 1864 die "Deutsche Shakespeare-Gesellschaft" mit Sitz in Weimar. Deren Ziele formuliert der Vorstand in einer "Denkschrift an die deutschen Regierungen":
"Die Deutsche Shakespeare Gesellschaft hat es sich als Aufgabe gestellt, das Verständnis, die Erläuterung, Übersetzung und Aufführung der Werke des unsterblichen Dichters, dessen Namen sie trägt, durch die Mittel literarischer und künstlerischer Vereinigung zu fördern. Es ist ihr nicht um einen Cultus des Genius zu tun, sie will vielmehr die Shakespeare-Studien auch für unsere eigene Zeit fruchtbar machen."
Dieter Mehl, von 1993 bis 2002 Präsident der DSG:
"Weimar war nach allgemeinem Dafürhalten ein besonders günstiger Ort für die Gründung einer solchen Gesellschaft, weil Goethe und Schiller sehr stark mit der kulturellen Tradition in Weimar verbunden waren und weil sowohl Goethe, als auch Schiller ja glühende Anhänger Shakespeares und seiner dramatischen Kunst waren und das Theater in Weimar sich von Anfang an auch sehr stark um Shakespeare bemühte."
Großherzogin Sophie unterstützt die Shakespeare-Freunde
Um die Werke des englischen Dramatikers zu pflegen und für deren Verbreitung zu sorgen, publiziert die DSG unter anderem ein "Shakespeare-Jahrbuch". In diesem wird Shakespeares Schaffen aus vielen verschiedenen Blickwinkeln wissenschaftlich beleuchtet. Doch das ist nicht alles.
"Es war nicht primär eine wissenschaftliche Gesellschaft, sondern es ging vor allem darum, Shakespeare und das, was er zu sagen hat, im deutschen Volk stärker zu verankern und die Shakespeare-Tradition zu pflegen. Etwa durch eine Shakespeare-Ausgabe, die besonders preisgünstig sein sollte, durch Theateraufführungen und andere Veranstaltungen."
In Sophie, der Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, findet die DSG eine wohlwollende Unterstützerin. Deren Engagement in Sachen Shakespeare ist unter anderem auf ihren früheren englischen Erzieher zurückzuführen. Christa Jansohn, Professorin für Britische Kultur an der Universität Bamberg, glaubt noch einen weiteren Grund zu kennen.
"Die Zerklüftung Deutschlands brauchte im Grunde auch einen gemeinsamen Nenner, und deshalb würde ich auch sagen, dass die Sophie trotz aller ihrer großen Hinwendung und Liebe zu Shakespeare auch ein politisches Element in der Gründung sah, indem sie nämlich sagte: 'Indem wir das in Weimar ansiedeln, können wir über Weimar hinaus, über's Herzogtum hinaus, wirken.' Und das ist auch geschehen, weil nämlich jedes Jahrbuch der Sophie gewidmet wurde. Das heißt, durch diese Widmung, durch die wohlfeilen Shakespeare-Ausgaben, wo immer die Widmungen an Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar zu finden sind, strahlte das Großherzogtum quasi als Kulturhauptstadt, wenn man den modernen Begriff nennen darf, hinaus."
In der Folgezeit übersteht die DSG selbst kritische Perioden wie die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus. Der bedeutendste Einschnitt in ihrer Geschichte erfolgt erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Ausschnitt aus "König Lear": "Mit diesem Tag soll meine tiefste Absicht offenbart sein. Ihr wisst, ich habe das Reich in drei geteilt. Ich will nunmehr die Mitgift meiner Töchter offen dartun, dass künftig niemals Streit daraus entstehen kann."
Ähnlich wie König Lear im gleichnamigen Shakespeare-Drama sein Reich aufteilt, hier in einer Hörspielfassung von 1982 für den SFB und SWR mit Bernhard Minetti in der Hauptrolle, verfahren auch die Allliierten mit dem besetzten Nachkriegsdeutschland. Wie alle anderen literarischen Gesellschaften ist auch die DSG auf deren Wohlwollen angewiesen. Das Schicksal will es, dass rund 80 Prozent der DSG-Mitglieder in den westlichen Besatzungszonen leben. Einige von ihnen beantragen bei den britischen Militärbehörden, in Bochum eine Zweigstelle einrichten zu dürfen. In einer Chronik der Gesellschaft aus dem Jahr 1964 heißt es dazu:
"Durch den Präsidenten der Gesellschaft, den Intendanten der Bochumer Bühne Saladin Schmitt, war Bochum eine alle anderen Bühnen überragende Pflegestätte für die Werke Shakespeares geworden. Hier waren alle Voraussetzungen gegeben, die Arbeit der Gesellschaft frei, unabhängig und tatkräftig fortzusetzen."
Im Juli 1946 findet in der Ruhrstadt die erste sogenannte "außerordentliche Mitgliederversammlung" der Bochumer DSG-Zweigstelle statt. Geleitet wird diese von einem geschäftsführenden Ausschuss. Parallel dazu erteilen im Mai 1946 auch die Besatzer im Osten Deutschlands der Weimarer Shakespeare-Gesellschaft die Zulassung. Diese wird dem "Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" angegliedert, der sich vor allem Antifaschismus und Humanismus verpflichtet fühlt.
DDR-Hörspiel "Romeo und Julia": "Mann: Zwei Häuser, beide gleich an Würdigkeit, erregen alten Hass und neuen Streit. Doch aus der Feindschaft Unheil Schoß ein Liebespaar entsprang, das nach unseligem Leidenslos der Väter Wut treibt in den Untergang. Nicht eher weicht der finstre Hass zurück.
Frau: Davon erzählet jetzt das Stück, das unser Mühen für Euch ersah: Das Spiel von Romeo und Julia."
Zum endgültigen Bruch kommt es im Frühjahr 1963
Vergleichbar ungünstig, wie es in Shakespeares Drama um Romeos und Julias Liebe bestellt ist, der Auszug entstammt einer Hörspielbearbeitung für den Rundfunk der DDR von 1949 mit Klaus Kinski als Romeo, soll sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges auch die Beziehung der beiden DSG-Niederlassungen in Weimar und Bochum zueinander entwickeln. Der schleichende Prozess wird sich über fast zwei Jahrzehnte hinziehen, bevor es zum endgültigen Bruch kommt. Zu schaffen machen den Mitgliedern in Ost und West bis dahin zunächst in erster Linie die restriktiven Reiseregelungen zwischen den verschiedenen Besatzungszonen. In der Chronik der DSG aus dem Jahr 1964 heißt es rückblickend:
"Von Bochum aus geschah alles, um die Verbindung zu den Mitgliedern in Mitteldeutschland aufrecht zu halten. So wurde allen Mitgliedern im Bereich Weimar das Jahrbuch kostenlos übersandt, obwohl die Mitgliederbeiträge aus Weimar nicht transferiert werden konnten. Zu den Bochumer Tagungen wurden selbstverständlich auch alle Mitglieder der Gesellschaft im Bereich Weimar eingeladen. Leider wurde nur wenigen die Ausreise gestattet."
Zum endgültigen Bruch kommt es im Frühjahr 1963. Willi Schrader, ehemaliger Direktor für Theater und Orchester beim DDR-Kulturministerium und Mitglied der DSG, erinnert sich.
"Die Shakespeare-Tage 1963 waren seinerzeit noch in Bochum beschlossen worden und trugen auch – die Einladungen – die Unterschrift des in der Bundesrepublik, in Nordrhein-Westfalen, beheimateten damaligen Präsidenten und des hiesigen Vize-Präsidenten in Weimar. Und dann kam es zu sehr unglücklichen Erscheinungen, die beiderseits aufgearbeitet werden müssen.
Der Kalte Krieg war nicht nur in den Köpfen und in den Handlungen in der damaligen DDR am Werke, sondern damals auch auf bundesdeutscher Seite, wo mit deutlich politischen Akzentsetzungen nachträglich die Veranstaltung in Weimar kurz vor ihrem Beginn abgesagt wurde, was sich juristisch dann nicht als haltbar erwies und natürlich zur Spaltung führte."
Die Aussage Willi Schraders stammt aus einem Radiointerview, geführt im Frühjahr 1991. Christa Jansohn zufolge spiegelt sich darin exemplarisch die Denkweise jener politischer Hardliner wider, die Anfang und Mitte der 60er-Jahre auf Seiten der DDR mit der Shakespeare-Gesellschaft befasst waren – und das selbst noch im zeitlichen Abstand von rund drei Jahrzehnten.
Für Christa Jansohn ist der Bruch zwischen den Shakespeare-Forschern aus Ost und West zuallererst verknüpft mit der Wahl eines neuen DSG-Vorsitzenden. Weil sich in den eigenen Reihen im Herbst 1962 kein geeigneter Kandidat findet, präsentiert der amtierende Bochumer Geschäftsführer einen umstrittenen Anwärter von außerhalb: den früheren nordrhein-westfälischen Kultusminister Werner Schütz.
Gegengründung einer zweiten Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Bochum
Als konservativer Jurist und CDU-Mitglied ist Schütz aus Sicht der beiden ostdeutschen Vertreter im DSG-Vorstand politisch untragbar. Trotzdem wird Schütz mit der Stimmenmehrheit der westdeutschen Vorstandsmitglieder zum neuen Präsidenten gewählt. Formaljuristisch laut Christa Jansohn ein Unding.
"Nach den Statuten durfte eigentlich nur der Präsident werden, der vorher im Vorstand war. Werner Schütz war aber nicht im Vorstand. Das heißt also: Erst nach der Wahl, Werner Schütz' einstimmigen Wahl mit zwei Enthaltungen aus Weimar, hat man gesagt: Okay, dann wählen wir ihn im Nachhinein quasi in den Vorstand. Dass dieser wirklich schwere juristische Fauxpas natürlich dazu dienen konnte und auch gedient hat, dann in Weimar zu sagen: Der Kandidat ist erstens juristisch nicht haltbar und zweitens aufgrund seiner Vita – ehemaliger CDU-Politiker und so weiter -, das war eigentlich absehbar."
Gut ein Jahr nach dem Mauerbau ist der formaljuristische Fehler für die DDR-Kulturpolitik ein willkommener Anlass, auch innerhalb der Shakespeare-Gesellschaft die endgültige Trennung zu vollziehen. Für die nächste Jahreshauptversammlung im April 1963 in Weimar wird die Abwahl des erst kurz zuvor gewählten, umstrittenen Präsidenten auf die Tagesordnung gesetzt.
"Bei der Abwahl von Werner Schütz in der Jahreshauptversammlung im April 1963 war es so, dass sehr wenige Mitglieder aus dem Westen an dieser Hauptversammlung aus unterschiedlichen Gründen teilgenommen haben oder auch teilnehmen konnten, und dass da eine ganz klare Mehrheit der ostdeutschen Mitglieder zu verzeichnen war. Das lag daran, dass man innerhalb von sechs Wochen über 650 neue Mitglieder, man kann ruhig sagen, eingeschleust hat."
Im Gegensatz zu den "Eingeschleusten" tritt Günter Walch anlässlich der Jahreshauptversammlung 1963 als junger Mann freiwillig in die DSG ein. Der spätere Professor für Anglistik an der Ost-Berliner Humboldt-Universität erinnert sich:
"Als völliger Frischling damals wusste ich natürlich nicht viel über die Hintergründe. Aber ich entsinne mich, dass wir in einem großen Saal saßen und dass das dort diskutiert wurde. Und dass Gysi – das war der Vater des heutigen Gysi, der war damals Chef des Aufbau-Verlages. Und der stand auf und plädierte dafür. Andere auch, aber an den erinnere ich mich. Also, es war ganz klar: Es war ausgemacht, dass das geschehen würde, und durch die Einsetzung von Schütz wurde es auch sehr leicht gemacht."
Nach der Abwahl von Werner Schütz wird in Weimar mit der neu geschaffenen Stimmenmehrheit der ostdeutschen Mitglieder der Anglist Martin Lehnert zum neuen DSG-Präsidenten gewählt. Die Reaktion aus dem Westen lässt nicht lange auf sich warten: In Bochum kommt es wenig später zur "Gegengründung" einer zweiten Deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Nach diversen formaljuristischen Streitereien wird deren Name schließlich in Klammern mit dem Zusatz "West" versehen. Damit steht unwiderruflich fest: Die Feierlichkeiten zum 400. Geburtstag William Shakespeares im April 1964 werden erstmals von zwei verschiedenen Shakespeare-Vereinigungen begangen.
Martin Lehnert, der neue Präsident der DSG Ost, gehört auch einem eigens eingerichteten Shakespeare-Komitee an. Dieses soll in Weimar die bevorstehenden Geburtstags-Feierlichkeiten organisieren. Der Präsident des Komitees heißt Alexander Abusch. Abusch ist einer der Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht. Die Pflege des Shakespearschen Werkes in der DDR ist damit ab sofort oberste Staatsangelegenheit. Noch einmal Günter Walch:
"Es gab einen Beauftragten im Kulturministerium, der für die Shakespeare-Gesellschaft und auch für andere Gesellschaften verantwortlich war und sich darum kümmerte – Programmgestaltung und so weiter. In unserem Falle war das zur damaligen Zeit Frau Johanna Rudolph. Ich weiß, dass der Präsident, Professor Martin Lehnert, mit ihr zunehmend in Konflikt geraten ist."
Politische Vereinnahmung der Dramen Shakespeares
Johanna Rudolph ist Leiterin der Hauptabteilung "Schöne Literatur" im DDR-Kulturministerium. Anlässlich der Gründung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft (West) schreibt sie in einer "vertraulichen Information" über "die Lage der DSG und die sich daraus ergebenden Aufgaben":
"Damit ist die DSG (mit Sitz in Weimar) zu einem Kampffeld der ideologischen und kulturpolitischen Auseinandersetzung geworden. Sie bietet nicht nur die Möglichkeit der Dokumentation unserer Leistungen, sie bietet darüber hinaus die Möglichkeit direkter ideologischer Offensive. Sie wird zu einem Modell für die sozialistische Aneignung des klassischen Erbes."
Was die vertrauliche Information des DDR-Kulturministeriums im Hinblick auf die Werke des berühmten Dramatikers bedeutet, zeigt sich in einer Erklärung des Shakespeare-Komitees vom Frühjahr 1964. Darin heißt es:
"Die 1864 in Weimar gegründete DSG setzte sich das Ziel, das Werk Shakespeares zu pflegen und seinen humanistischen Gehalt breiten Kreisen des Volkes zu erschließen. Im Sinne dieser Tradition stellt die DSG heute ein Forum dar, auf dem sich Wissenschaftler, Künstler und Freunde Shakespeares zusammenfinden, um in einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen des Dichters Bild vom bewegten, zukunftsträchtigen Dasein des Menschen in neuen Formen gemeinsamen Strebens zu verwirklichen."
Die politische Vereinnahmung der Dramen Shakespeares findet in den Folgejahren ihren Niederschlag unter anderem in den Themen, die auf den jährlichen Weimarer Shakespeare-Tagen diskutiert werden. An diesen nimmt auch Günter Walch teil.
"Dann war das natürlich auch eine Klassenfrage. Es wurde schon gesagt, dass Shakespeare aus einer bürgerlichen Familie kommt. Dann wurde aber auch gesagt – in verschiedenen Vorträgen wurde die Rolle des Volkes besonders behandelt. Plebejer, wie ich sagen würde, erregten besonderes Interesse in diesem Zusammenhang, sozusagen als Vorform der Arbeiterklasse."
Die Shakespeare-Forschung der DDR macht sich daran, die Bedeutung der Nebenfiguren in Shakespeares Werken besonders herauszustellen – und damit die Rolle des einfachen Volkes. Im Mittelpunkt der Stücke-Interpretationen stehen darum oft Bettler, Narren, Gärtner und Soldaten. Deutlich wird dies zum Beispiel bei einem Aufsatz aus dem 1964er-Jahrbuch der DSG Weimar zum "König Lear".
"Die verschiedenen Gestalten haben sich entscheidend entwickelt; die Schlimmen sind schlimmer geworden und sind am Ende Opfer ihres Egoismus, ihrer verbrecherischen Besitz- und Machtgier. Die Guten und potenziell Guten werden durch Leiden geläutert. Und die Tatsache, dass es ein Bauer ist, dessen Widerstand den Anlass zur Wendung der dramatische Handlung gibt, der Diener Cornwalls, der bei der Blendung Gloucesters das Schwert gegen die Unmenschlichkeit seines Herrn erhebt, ist von wesentlicher Bedeutung."
Im Westen nähert man sich Shakespeares Werken deutlich differenzierter als in der DDR. So schreibt Wolfgang Clemen im 1964er "Jahrbuch West" zum Stand der aktuellen Shakespeare-Forschung:
"Keine Zeit wird beanspruchen können, sie besäße nun die endgültige, die objektive und für alle Zukunft verbindliche Vorstellung von Shakespeares Dramen. Denn obwohl man von Jahr zu Jahr mehr Aussagen über Shakespeares Werk machen kann, die wissenschaftlich nachprüfbar sind und objektiven Untersuchungsergebnissen entspringen, so werden doch die geistige Wirkung Shakespeares und das Bild, das von der Eigenart seiner Dramen und vom Wesen seiner Kunst besteht, sich weiter verändern."
DDR-Regimekritik mit Shakespeares Hilfe
Auch in der Bundesrepublik werden die Stücke Shakespeares sehr wohl mit politischen Bezügen auf die Bühne gebracht. Machtergreifung und Entmachtung, Mord und Verrat, die sich in Shakespeares Werk in finsterer Monotonie wiederholen würden, so Wilhelm Hortmann, hätten einer jüngeren Generation von Schauspielern und Regisseuren ausgezeichnet ins Weltbild gepasst. Die jungen Theatermacher, schreibt Hortmann in seinem Buch "Shakespeare und das deutsche Theater im 20. Jahrhundert",
"... waren entschlossen, das Theater zu einem Instrument der 'Aufklärung' und antibürgerlichen Agitation umzufunktionieren. Dahinter stand die quälende Auseinandersetzung mit der Frage aller Fragen: Wie konnte es zum Holocaust kommen? Hatten die Klassiker nicht dazu beigetragen, ein repressives Wertesystem zu unterstützen? Es gab nur ein Mittel, um die klassischen Stücke von ihrem Hang zur Affirmation zu befreien und ihnen ihre ursprüngliche Sprengkraft wiederzugeben. Man musste ihre inhärenten Widersprüche aufdecken, sie aus der Historie lösen und radikal vergegenwärtigen."
"Shakespeare war ein ganz wichtiger Theaterautor, der von den Theatern unglaublich geschätzt wurde, weil man mit Shakespeare eben alles ausdrücken kann. Man kann aufmüpfig sein, man kann widerspenstig sein",
... sagt Eva Walch, Shakespeare-Übersetzerin in der DDR. Sie vertritt damit die These, dass sich die Stücke des britischen Dramatikers seinerzeit durchaus auch regimekritisch inszenieren ließen.
Bevor Eva Walch als Shakespeare-Übersetzerin zu arbeiten beginnt, steht sie 1964 in einer studentischen Aufführung von "Der Widerspenstigen Zähmung" in Weimar auf der Bühne. Anlass ist William Shakespeares 400. Geburtstag. Eva Walchs Ehemann, Günter Walch, führt Regie. Er inszeniert den Klassiker ganz bewusst mit der einen oder anderen politischen Zweideutigkeit.
"Es gab schon eine Stelle in dem Stück, die politisch von uns gemeint war und auch so verstanden wurde – wenn nämlich die Katharina sagt: 'I trust I may have leave to speak – ich darf schon mir das Wort nehmen, ich habe das Recht, zu sprechen.' Und das war so inszeniert, dass man an die Rampe trat und in den Zuschauerraum sprach. Das wurde als ein kleiner Beitrag zur vermeintlichen oder tatsächlichen Meinungsfreiheit verstanden."
Manche Mitglieder der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft (West) scheuen sich nicht, ab und an die jährlichen Shakespeare-Tage der Kollegen im anderen deutschen Staat zu besuchen. So auch Dieter Mehl, von 1993 bis 2002 Präsident der zu dieser Zeit bereits wiedervereinigten DSG. Bei seinen Besuchen in Weimar wird Mehl den Eindruck nicht los, dass die verschiedenen Fachdiskussionen zum Thema Shakespeare jeweils streng kontrolliert werden. Das betrifft auch die studentischen Fachcolloquien.
"Ich fand es damals interessant, dass in einem Studentenkolloquium ein Student als Sprecher sagte: Wir Studenten vom dritten Studienjahr in der Universität Rostock finden das Verhalten des Polonius an dieser Stelle von Hamlet schändlich. Und dann waren in jedem Kolloquium, in jedem Vortrag einige ziemlich treue Parteimitglieder dabei, die sofort kommentierten, kritisierten – Aufführungen kritisierten. Man hatte das Gefühl, es wird alles sehr genau beobachtet."
Die Wiedervereinigung der deutschen Shakespeare-Forscher
Ende der 1980er-Jahre beginnt sich die allgemeine politische Großwetterlage zu ändern. Glasnost und Perestroika finden ihren Niederschlag auch in Bezug auf die Weimarer Shakespeare-Gesellschaft. Deren Vertreter dürfen jetzt auch zu den Jahrestagungen nach Bochum reisen. Im November 1989 schließlich fällt die Mauer. Mit der Wiedervereinigung von DSG Ost und West soll es aber noch etwas länger dauern als mit der der beiden deutschen Staaten.
"Denn es war schon eine Menge von gegenseitigem Misstrauen, vor allem hat die westdeutsche Gesellschaft gesagt: Das können wir nur sehr langsam machen, denn um uns mit dem Osten zu vereinigen, da müssen die erst mal dafür sorgen, dass viele von den schlimmen Leuten rauskommen. Soweit ich damals beobachten konnte, hat die Weimarer Gesellschaft das sehr geschickt verstanden, dass doch einige eigentlich völlig inakzeptable Leute verschwunden waren."
Die nicht nur für Dieter Mehl inakzeptablen DDR-Politfunktionäre ziehen sich allmählich aus der DSG Weimar zurück. Dreieinhalb Jahre nach dem Fall der Mauer ist es schließlich so weit: Die 1400 Mitglieder der Weimarer Gesellschaft schließen sich Ende April 1993 zusammen mit den rund 1800 Mitgliedern aus dem Westen.
Dieter Mehl wird zum neuen Präsidenten gewählt, sein Ost-Kollege Maik Hamburger zum Vizepräsidenten. Als Hauptsitz der DSG wird Weimar festgeschrieben.
An lebendigen Auseinandersetzungen mit dem Werk Shakespeares herrscht seit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Gesellschaften kein Mangel. Das Jahrbuch erscheint seitdem wieder in einer gemeinsamen Ausgabe, pro Jahr finden in der Regel zwei Shakespeare-Tagungen statt – meist in Weimar und Bochum, hin und wieder auch in Österreich oder der Schweiz. Außerdem verleiht die DSG regelmäßig einen Nachwuchspreis für junge Shakespeare-Forscher und unterstützt Theater bei der Interpretation komplizierter Texte. Besonders stolz ist nicht nur Christa Jansohn dabei auf einen Umstand, der die DSG seit jeher von anderen Shakespeare-Organisationen unterscheidet.
"In England hat sich erst vor kurzem eine Shakespeare-Gesellschaft formiert. In Amerika gibt es seit den 50er-, 60er-Jahren die sogenannte Shakespeare Association of America. Das sind aber alles eigentlich Fachverbände und das ist der große Unterschied: dass nach wie vor seit der Gründung 1864 in Deutschland die Shakespeare-Gesellschaft allen offensteht."