Ein Leben für den Jahrtausenddichter
Seit 25 Jahren ist Peter Lüchinger Mitglied der Shakespeare Company in Bremen und damit der dienstälteste Schauspieler des Ensembles. Doch langweilig wird ihm die Arbeit nie - denn der Shakespeare-Kosmos bleibt unerschöpflich, meint er.
Im Theater am Leibnizplatz stehen alle Türen offen; damit Peter Lüchinger schneller hindurchlaufen kann, scheint es. Seit 25 Jahren ist die Bremer Shakespeare Company hier zu Hause, genauso lange ist Peter Lüchinger dabei. Ein schmaler, sportlicher Typ. Er sieht jünger aus als Mitte 50. Drahtig, mit gesunder Gesichtsfarbe. Auf dem Weg zwischen Probebühne und Büro bleibt er in der Schneiderei hängen. Neugierig schaut er seiner Kollegin Galina Rikkert, der Gewandmeisterin, über die Schulter.
"Galina hat mir mein schönstes Kostüm gemacht, ein Tutu für das 'Wintermärchen'."
Ein besonders schönes Kostüm, aber kein Lieblingskostüm. Peter Lüchinger spielt alle Rollen gern; den Zaungast in der Schneiderei, den Geist in "Hamlet", den Benvolio in "Romeo und Julia" und kurz darauf schon wieder den Finanzexperten zwischen Exceltabellen, so wie jetzt gerade an seinem Schreibtisch.
Als Jugendlicher hat der gebürtige Schweizer es mit bürgerlicher Arbeit probiert – schließlich waren auch seine Eltern keine Künstler. Die Ausbildung zum Bankkaufmann hat er noch abgeschlossen, aber dann war der Wunsch nach einem bunten Alltag größer. Deshalb passt die Bremer Shakespeare Company, kurz bsc, so gut zu ihm. Hier machen wir alles selbst, sagt er. Es gibt keine institutionalisierte Leitung, keinen Intendanten, kein Management. Im Zentrum steht der Schauspieler.
"Und der soll entscheiden über die elementaren Sachen: wer inszeniert, wen will ich als Kollegen, als Schauspieler-Kollegen, haben. Mit dem muss ich nachher spielen! Deshalb müssen alle Schauspielerkollegen 'ja' sagen zu einem Schauspielerkollegen, der engagiert wird. Am Theater entscheidet das irgendjemand und dann sagt man: ah, neuer Kollege, guten Tag. Das kann alles positiv sein, aber das wollen wir machen. So."
Selbstbestimmtes Arbeiten bei der Bremer Shakespeare Company
Keine Hierarchien, Verantwortung tragen, selbstbestimmt arbeiten. Aus diesen Gründen hat Lüchinger 1989 das staatliche Theater hinter sich gelassen. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite lockte der, der der Bremer Shakespeare Company seit 1984 ihren Namen gibt. Schon während der Ausbildung an der Schauspielakademie Zürich spürte Lüchinger das Shakespeare-Virus.
"Ich habe einfach gemerkt für mich: Ich kann mich mit Shakespeare gut ausdrücken. Das reicht mir. Bei Shakespeare kann man sich mit ganz vielen Themen, auch mit dem Tod, beschäftigen, immer wieder. Da geht er sehr weit. Da geht er immer an den Abgrund ran, da lässt er die Figuren fallen, aber er hebt sie durch andere Figuren auch wieder auf. Und wenn man ihn öfter spielt, dann merkt man: Ja, das Leben hat eine weiße und eine schwarze Seite. Da deckt er beide Seiten immer ab."
Die Premiere von "Wie es Will gefällt" steht kurz bevor; eine Hommage an William Shakespeare. Ob der Autor wirklich so hieß, ob er am 23. April 1564 oder doch etwas früher oder später auf die Welt kam – Peter Lüchinger berühren diese Thesen nicht weiter. Für ihn zählen die Texte, Shakespeares Welten. Und vor denen verbeugt sich das Ensemble anlässlich des 450. Geburtstags mit einer Komödie.
"Lassen Sie uns am Anfang anfangen, lassen Sie uns 450 Jahre zurückspringen..."
Lüchinger hat seine Alltagskleidung - khakifarbene Hose und kariertes Hemd - gegen Altherren-Kleidung eingetauscht: Bundfaltenhose und Strickjacke, eine auffällige Brille. Als Lewis Parish hält er einen dreistündigen Vortrag über Shakespeare. So jedenfalls plant er es, aber als er "Hamlet" als wichtigstes Stück des Autors betitelt, treten zwei griechische Anwälte auf und beschweren sich.
"Sie können nicht einfach behaupten, 'Hamlet' sei das beste Stück. Das ist Verleumdung.
– Tut mir leid, vielleicht wurde das am Anfang des Abends nicht so richtig gesagt, aber das hier ist nicht eine von diesen modernen 'das-Publikum-macht-mit-Veranstaltungen'.
– Wir können Sie verhaften lassen!
– Wenn Sie mich jetzt bitte weitermachen lassen würden...
– Wenn Sie weiterreden, dann wird das gegen Sie verwendet werden. Komm!"
Bei Lüchinger laufen die Fäden zusammen
Einen der – männlichen - Anwälte spielt Petra Janina Schultz. Die langen Haare hat sie unter einem Hut versteckt, ein weiter Mantel und Anzughosen verdecken ihre Figur. Es kommt oft vor, dass sie Charaktere des anderen Geschlechts spielt; einfach, weil es in Shakespeares Stücken mehr Männer- als Frauenrollen gibt. "Cross-gender" also – aber andersherum als zu Shakespeares Zeiten, als Männer Frauen spielten. Schultz ist seit 13 Jahren Mitglied der bsc – das heißt halb so lang wie Lüchinger; diesen Unterschied spürt man.
"Er hat natürlich eine leitende Funktion, und er ist der, der das Haus am besten kennt und auch mit die meiste Zeit in das Haus investiert. Er hat keine Familie und hat natürlich auch sehr viel mehr Zeit zur Verfügung und investiert die auch. Ich würde schon sagen: ohne Peter Lüchinger wäre sehr viel mehr Arbeit auf unseren Schultern."
Bei ihm laufen die Fäden zusammen, sagt die Schauspielerin, die Lüchinger als besonders präsente und von Herzen spielende Kollegin schätzt – während der Arbeitszeit. Die Freizeit verbringen die neun Ensemblemitglieder meist getrennt voneinander, um auch noch ein Leben neben Shakespeare zu haben. Und noch etwas lässt Lüchinger sich nicht nehmen: den Sommerurlaub. Jedes Jahr sechs Wochen theaterfreie Zone in der Natur.
"Berge und Meer. Und wenn möglich drei Orte. Aber immer sehr abgelegene Orte, also wo relativ wenig Tourismus ist."
Diese Zeit braucht er zum "Entleeren", sagt der Schauspieler. Sechs Wochen lang vergisst er die bsc, jeden Text und William Shakespeare. Und dann kommt Peter Lüchinger zurück nach Bremen und hat Platz für neue Ideen, um den 450 Jahre alten Autor ins Jetzt zu holen.