Shared Reading in der Coronazeit

Warum es gerade jetzt wichtig ist, gemeinsam zu lesen

04:29 Minuten
Eine Hand fährt mit dem Zeigefinger die Zeilen eines aufgeschlagenen Buches nach.
Lesen muss keine einsame Beschäftigung sein - in der Gruppe ist es besonders bereichernd, meint Melike Peterson. © Unsplash / Thought Catalog
Gedanken von Melike Peterson · 07.12.2020
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Auch in der Coronazeit muss Lesen kein privater, zurückgezogener Akt bleiben. Gerade jetzt sollten wir gemeinsam lesen, findet die Stadtgeografin Melike Peterson. Denn das Konzept des "Shared Reading" funktioniere auch online.
Lange empfand ich die Treffen der "Wir lesen"-Gruppe, an denen ich regelmäßig in der Stadtbibliothek teilnahm, als besonderen Moment. Es war nicht nur das Kennenlernen und Besprechen der Texte, das mich beflügelte, sondern vor allem die gemütliche Gruppenatmosphäre und das gemeinsame Vorlesen im "Hier und Jetzt". Das funktioniert auch online.
Wenn ich den Stimmen der anderen Teilnehmer durch meinen Bildschirm lausche, tauche ich ein in andere Zeiten, Länder und Welten, lerne Menschen und ihre Schicksale kennen und überlege gemeinsam mit den anderen Teilnehmern, im Chat oder auch wild durcheinander redend, was sich zwischen den Zeilen verbirgt. Die Zeit verlangsamt sich während unserer Treffen, wird zähflüssig wie Karamell. Ein angenehmes Gefühl, das ich in meinem Alltag selten verspüre. Gleichzeitig vergeht diese Zeit wie im Flug. Gefühlt viel zu früh müssen wir unsere Gespräche beenden und uns aus unseren Fantasien herauslösen. Der Alltag ruft. Ich klappe meinen Laptop zu.

Hintergrundwissen ist unwichtig

Buchclubs und Lesegruppen sind nichts Neues. Gemeinsam wird inzwischen in vielen deutschen Städten gelesen, wo unter anderem Bibliotheken solche Treffen anbieten. Aktuell auch zunehmend online. Es geht dabei auch darum, Worte auf sich wirken zu lassen. Texte werden laut vorgelesen und dann besprochen. Hintergrundwissen ist unwichtig und man kann völlig unvorbereitet teilnehmen. Dieses Konzept des "Shared Readings" stammt von der Engländerin Jane Davis und wurde mit dem Gedanken weiterentwickelt, den Lesern von heute Bücher näher zu bringen. Beim geteilten Lesen geht es also vor allem um das Erfahren von Literatur und dem Spaß am Lesen.
Trotzdem fühle ich mich beim Vorlesen manchmal angreifbar und verletzlich, den Blicken der anderen Teilnehmer ausgesetzt. Dieses Gefühl wird online noch verstärkt. Die Zeit vergeht in solchen Momenten unendlich langsam.
Und doch sind diese Gefühle ein unersetzlicher Bestandteil dieses gemeinsamen Erlebens. Das Erheben der eigenen Stimme ist ein zutiefst intimer und verletzlicher Akt: Um das einzufangen, was man an einem Buch oder Text liebt und was nicht, setzt voraus, dass man sein Innenleben gut kennt – die Art, wie eine Sammlung von Wörtern unser Innerstes zu bewegen vermag – und dies an andere weitergibt, nicht wissend, ob diese Gefühle erwidert werden. Die soziale Funktion des Vorlesens kostet Mut und sie ist merkwürdig. Ein häufig sehr privater Moment – Laute, die wir in unseren Köpfen hören – verbindet uns mit anderen Menschen. Erst dadurch ist mir aufgefallen, wie sonderbar das eigentlich wirkt. Und wie wichtig.
Unsere Gesellschaft ist geprägt von Zeitmangel: Arbeit, Familie, Freunde, Hobbys verlangen nach unserer Zeit und Aufmerksamkeit, von der wir häufig das Gefühl haben, dass sie nicht ausreicht. Zeit zum fokussierten Verweilen, zum Nichtstun und zum In-sich-hinein-horchen bleibt da oft auf der Strecke.

Die neue Langsamkeit als Chance

Hinzu hat die Coronakrise vielerorts zur radikalen Verlangsamung beziehungsweise zum weitgehenden Erliegen von Alltag und öffentlichem Leben geführt. Zeit und das Vergehen von Zeit haben eine neue Bedeutung bekommen – wir wurden zu Endeckern einer neuen Langsamkeit. Was für eine Chance! Denn dieses Jahr hat uns auch vor Augen geführt, wie unentbehrlich Gemeinschaft und miteinander Zeit zu verbringen für Mensch und Gesellschaft sind – sei es off- oder online.
Ein wichtiger Schritt, da gerade in Zeiten strengerer Kontaktbeschränkungen das gemeinsame Online-Lesen eine Möglichkeit des kollektiven Erlebens ist. Beim Lesen nehmen wir uns Zeit für uns selbst und für andere, wodurch Momente und Orte der Verbindung entstehen. Hannah Arendt sprach sich für die Bedeutung einer gemeinsamen, geteilten Welt aus, in der Menschen durch Geschichten die verschiedenen Facetten der Realität kennenlernen, die in ihrer Gesamtheit den Zusammenhang der Welt gewährleisten. Die Zeit des Miteinander-Lesens kann dazu beitragen.

Melike Peterson ist Postdoktorandin am Institut für Geografie an der Universität Bremen. Ihre Forschung beschäftigt sich mit Begegnungen im öffentlichen Raum, und Fragen der Integration und multikulturellem Zusammenleben in der Stadt. Ihr aktuelles Projekt untersucht Bibliotheken als zentrale öffentliche Orte der Gemeinschaft und Bildung. Mehr Infos zum Projekt unter bibliothekenundrechtaufstadt.wordpress.com.

© Melike Peterson / privat
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